24. Sonntag im Jahreskreis: „Wohin Du blickst, dorthin wirst Du gehen!“

  • Auf Links gedreht - Das Evangelium
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Die Koordinaten bestimmen

Du kennst sicher James Camerons Film „Titanic“ von 1997! Ich schaue ihn immer wieder gerne an, vor allem natürlich wegen der Musik von Celine Dion. Und immer dann, wenn der Eisberg auftaucht, wundere ich mich, dass die „Brücke“ so spät reagiert. Ich spüre die Versuchung, den Männern auf der Brücke „Ab nach links“ oder in Seemannsprache „Nach Backbord abdrehen“ zuzurufen, aber zu spät. Und irgendwie wundere ich mich, dass die Titanic bei jedem Anschauen des Films den Eisberg rammt, am Bug aufgerissen wird und dann immer schneller untergeht und versinkt.

Im Evangelium erleben die einen Jesus als den „Eisberg“, der in den Untergang führt. Die anderen hingegen erleben ihn als den, der die Koordinaten neu bestimmt, den Eisberg der Tradition umschifft und „ins Offene“[1] fährt.

„Für wen halten mich die Menschen?“, fragt er die Jünger. „Einige für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für sonst einen von den Propheten,“ antworten sie (Mk 8, 27f). „Einige“ oder „andere“ haben den vergleichendenBlick: Jesus ist für sie wie Johannes der Täufer oder wie Elija, oder mehr noch: er ist wie der wiedergekommeneJohannes, der wiedergekommene Elija, oder ein anderer wiedergekommene Prophet. Die Antworten sind der Vergangenheit entnommen, setzen die Vergangenheit gegenwärtig, gehen aber an der Gegenwart Jesu völlig vorbei – das ist Tradition“ in einem schlimmen Sinn. Diese Menschen, diese Formen der Tradition haben etwas vom „Eisberg“, etwas Kaltes, etwas Abweisendes, etwas, was eher Distanz als Nähe vermuten lässt.

Aber jetzt: „Da fragte er sie: Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ – Simon Petrus antwortete: „Du bist der Christus!“ Das ist der Moment, wo die Steuermann der Titanic in der Person von Petrus das Steuer nach links[2] (!) zieht und so das Zerschellen am Eisberg der Pharisäer und Schriftgelehrten verhindert (zugegeben: nur für kurze Zeit, aber immerhin![3]).

Mich bewegt die Frage, wieso Simon Petrus, sicher für die anderen Apostel mit, zu genau dieser Antwort kommt, die Pharisäer und Schriftgelehrten und viele der anderen “Menschen“ aber gerade nicht – nach dem Urteil der „Menschen“ fragt Jesus im Evangelium zuerst.

» Wohin Du blickst, dorthin wirst Du gehen. «
Sprichwort aus Thailand, Quelle unbekannt

„Wohin Du blickst…“

Ein thailändisches Sprichwort sagt: „Wohin Du blickst, dorthin wirst Du gehen.“[4] Dieses Sprichwort erschließt mir die Antwort des Simon Petrus, und es kann Dir und mir Ansporn sein, selbst eine Antwort auf Jesu Frage zu wagen: „Du aber, für wen hältst Du mich?“ Auf Jesus schauen, im Evangelium ebenso wie in der erlebten Gegenwart, die er mit mir lebt, in der er sich präsent zeigt – das, was ich sehe, formt sich zu einer Antwort, die ich vielleicht sogar in Form bringen, formulieren kann: „Wer bin ich – für Dich?“ Ein altes Kirchenlied heißt „Macht weit die Pforten in der Welt“[5], und darin steht in einer Strophe: „Lasst uns auf seine Hände schau‘n, an seinem Reiche mutig bau‘n, sein Wort ist Ja und Amen“. Wie die Männer auf der Brücke der Titanic wach sein und Ausschau halten, nicht nach dem Eisberg des Verderbens, sondern nach Begegnungen des Heils, nach heilen und heilenden Begegnungen, Haltungen und Erlebnissen.

» Wir alle aber schauen mit enthülltem Angesicht
die Herrlichkeit des Herrn
wie in einem Spiegel
und werden so in sein eigenes Bild verwandelt,
von Herrlichkeit zu Herrlichkeit,
durch den Geist des Herrn. «
2 Kor 4,4,

„.. dorthin wirst du gehen.“

Die buddhistische Meditationstechnik „Shamatha“ bezeichnet ein ruhiges und friedvolles Verweilen, die auf Konzentration und Stabilität des Geistes abzielt.[6] Es gilt, dran- und dabei zu bleiben. Die im Tempel aufgestellten Figuren des Buddha haben hier eine Funktion, die uns im Christentum guttäte. Der verweilende, konzentrierte Blick auf den Buddha kann dazu führen, dass dieser Buddha in den, der ihn betrachtet, „übergeht“ oder „eingeht“, und dass im Verweilen und in der Stabilität des Blickes und des Geistes die Buddha-Natur im Meditierenden erwachen und erwachsen kann. Hier geschieht nicht nur Änderung, sondern Verwandlung.

Wenn Du magst, übertrage es auf das „Ansehen Jesu“. Am 14.09. kennt die Kirche das Fest „Kreuzerhöhung“. Eine Antwort auf die Frage „Wer bin ich – für Dich?“ kann durch diesen ruhigen, friedvollen, verweilenden Blick auf Jesus – auch am Kreuz – in Dir erwachsen, im Blick auf seine „Hände“, sein Wirken, im Hören auf sein Wort. An einem Fest wie „Kreuzerhöhung“ geht es sicher nicht darum, das Kreuz zu verherrlichen, sondern darum, den mehr kennen zu lernen, der ans Kreuz geschlagen wurde – so, dass er in Dich und in die, die ihn betrachten, „übergehen“ und „eingehen“ kann. So, dass die Christus-Natur, dass Christus selbst im Meditierenden erwachen und erwachsen kann. Das mag die Lösung sein auf die Frage, warum die „Menschen“ Jesus so und die Apostel ihn anders deuten: Die Apostel, die Jünger haben entschieden, wohin sie blicken, und gehen dem nach (im doppelten Sinne!). Wohin sie blicke, dorthin/zu dem kommen sie – und er zu ihnen/in sie.

» Wer mit den Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn Du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in Dich hinein. «
Nietzsche, Friedrich (2022): Jenseits von Gut und Böse. Vollständige Neuausgabe, Göttingen, 71.

Nietzsches „Abgrund“

Hier könnte ich jetzt gut aufhören. Und doch drängt mich der „verfehlte“ Blick, der ins Leere führt. Die Lebenserfahrung lehrt, dass der Blick gut in die eine Richtung gehen kann, aber fehlende Ruhe, fehlender innerer Friede, fehlendes Verweilen, fehlende Konzentration und eine Instabilität des Geistes – so könntet es mit der „Shamata“-Meditation beschrieben werden – haben zur Folge, dass die Wege, die ich gehe, eben nicht dorthin führen, wohin ich gerne möchte. Der unstete blick mit allem, was dazugehört, führt auf Abwege, auf Umwege, letztlich führt er ins Leere.

„Wer mit den Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn Du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in Dich hinein,“ [7] schreibt Friedrich Nietzsche. Die Entschiedenheit der Apostel und der Jünger, der Männer und Frauen um Jesus, ihren Blick immer wieder auf Jesus zu lenken, haben das junge Christentum zu dem gemacht, was es war – bei allen Ausrutschern und Unfällen, von denen ja schon das Neue Testament berichtet. Ruhe, innerer Frieden, Verweilen, Konzentration auf Jesus und die Sorge um einen stabilen Geist helfen, die Gegenwart Jesu zu erleben, in ihr zu leben, sie weiterzugeben. Der Kampf mit den Ungeheuern hat die Gefahr, selbst zum Ungeheuer zu werden und nur noch am Abgrund zu stehen, wenn nicht sogar einen Schritt weiter zu gehen. Die Männer auf der Brücke der Titanic haben den Eisberg als solchen falsch eingeschätzt oder zu spät gesehen, und er führte sie in den Abgrund.

Von jemandem, der neue Situationen schnell erfasst und das Wesentliche erkennt oder überblickt und dann „dranbleibt“, heißt es, er/sie sei „blickig“[8]. Bleibt nur eines an diesem Sonntag zu sagen: „Sei blickig! Wohin Du blickst, dorthin wirst du gehen!“

Amen.

Köln, 12.09.2024
Harald Klein

[1] Der Ruf Friedrich Hölderlins (1770-1843) zu Beginn seiner Elegie „Der Gang aufs Land. An Landauer“ könnte als Programmsatz Jesu verstanden sein: „Komm! Ins Offene, Freund!“ – Mir sind die beiden den Satz gliedernde Ausrufungszeichen besonders lieb: Eine Einladung, eine Ortsbestimmung, eine Wertschätzung – eben: ein Programmsatz Jesu!

[2] … mit einem kleinen Augenzwinkern zu den Traditionalisten in unserem „Schiff, das sich Gemeinde nennt“!

[3] … was auch für die Reformen in der Kirche gelten könnte! Wer weiß?!

[4] Die Quelle des Zitats kann ich leider nicht finden, und die im Internet angebotene Version „… dorthin wirst Du auch fliegen“ scheint eher eine Aussage der Werbung als eine Aussage der Wahrheit.

[5] vgl. Gotteslob Lied Nr. 360.

[6] vgl. [online] https://www.monikaeisenbeutel.com/was-ist-shamata-meditation/ [12.09.2024]

[7] Nietzsche, Friedrich (2022): Jenseits von Gut und Böse. Vollständige Neuausgabe, Göttingen, 71.

[8] Petra Polk bezeichnet sich selbst als „Mentorin für weiblichen Erfolg“. In einem ihrer Artikel beschreibt sie die Eigenschaften, die helfen, „blickig“ zu sein – und all diese Eigenschaften gelten auch für eine Suche auf die Antwort nach der Frage: „Du aber, für wen hältst Du mich?“ – vgl. [online] https://petrapolk.com/warum-es-sinn-macht-blickig-zu-sein/ [12.09.2024]