Sich einfach mal dazustellen…
Wahrscheinlich fangen heute Hunderte von Predigten so an, tut mir leid, aber mir fällt auch nichts Besseres ein als das „Vorstellen der Bühne“, wie es Ignatius von Loyola nennt: Stellen Sie sich als einen/eine Arbeitsuchende*n im Licht des frühen Morgens auf einem orientalischen Markt in Israel zur Zeit Jesu vor. Nehmen Sie die Geräusche wahr, die Gerüche, betrachten Sie die Menschen aus den verschiedenen Ständen und hinter den verschiedenen Ständen, und spüren Sie sich hinein in die drängende Hoffnung, jemand käme und würde Sie einstellen, für einen Tag, für einen paar Münzen. Sie werden von einem Gutsbesitzer angesprochen, das Entgelt von einem Denar wird ausgehandelt, und Sie gehen los. Drei, sechs, ja neun, ja elf Stunden später sehen Sie, wie der Gutsbesitzer immer noch Arbeitende anwirbt, weil es so viel zu tun gibt, und weil die Ernte reich ist.
Am Abend kommt der Verwalter und entlohnt Sie und die anderen Arbeitenden. Ihnen schwillt der Kamm: Alle, aber auch alle erhalten den einen Denar. Selbst diejenigen, die nur eine Stunde – den zwölften Teil von Ihnen! – gearbeitet hat, erhalten das Gleiche, den einen Denar.
Das Schöne des ignatianischen „Vorstellens“ oder „Herrichten der Bühne“ ist: Sie stehen nicht nur in Gedanken, sondern auch mit Ihren Emotionen, ihren geistigen und seelischen Reaktionsmustern mitten im Geschienen drin. Ich überlasse es Ihnen, Ihre Gedanken, Emotionen, Reaktionsmuster zu bemerken und anzuschauen.
Und dann verlassen Sie bitte Ihre „Bühne“ und kommen wieder im Hier und Jetzt an!
Ein paar Gedanken zu „Gerechtigkeit“
Man könnte meinen, die Arbeitenden zur Zeit Jesu hätten ihre eigene „Theorie von Gerechtigkeit“, etwa so, wie sie John Rawls in den späten 70er Jahren beschrieben hat. Sie fordern und erwarten im Rahmen einer sozialen Gerechtigkeit eine faire Zuweisung von Rechten und Pflichten in den grundlegenden Institutionen – auch wenn es „nur“ um die Institution des Gutsbesitzers geht. Sie erwarten eine richtige Verteilung der Früchte und der Lasten der gesellschaftlichen Zusammenarbeit – wobei das „richtig“ sich auf gesellschaftlich geltende Normen bezieht. Und diese Erwartungen werden scheinbar enttäuscht! In den vorwurfsvollen Worten des Evangeliums: „Diese Letzten aber haben nur eine Stunde gearbeitet und du hast sie uns gleichgestellt. Wir aber haben die Last des Tages und die Hitze ertragen“ (Mt 20,12).
Die klare Logik der Gerechtigkeit: Wenn der Tageslohn einen Denar beträgt, bekommen die, die nur eine Stunde gearbeitet haben, den 12. Teil eines Denars – oder umgekehrt: Wenn diese den einen Denar behalten dürfen, stehen uns 12 Denare zu! Gerechtigkeit kann rechnen und zuteilen bzw. einbehalten. Gerechtigkeit kann zugreifen, Recht kann abverlangen, wenn es nicht anders gehe, sogar mit legaler Gewalt, sagt Eugen Drewermann.[1] Und „es ist nicht allzu schwer zu begreifen, dass die Liebe unter den Menschen bereits zerbrochen sein muss, wenn nichts weiter mehr gelten soll als der Rechtssandpunkt.“[2]
Wenn Sie möchten, erklimmen Sie noch einmal die Bühne für die Szene am Abend, für den Moment der „Abrechnung“!
Ein paar Gedanken zu „Barmherzigkeit“
Noch einmal der Blick auf den ausgehandelten, auf den einen Denar. „Das, was der Mann hier erhalten hat, ist in sich kein Unrecht, wohlgemerkt. Das ‚Unrecht‘ entsteht erst im Vergleich mit den anderen, mit den aus Güte Bevorzugten. […] Man gebe den Menschen, was sie nötig haben, denn, muss man ergänzen, mit dem, was sie verdienen, können sie nicht leben“, erläutert Drewermann.[3]
Unrecht entsteht erst im Vergleich! Der Gutsbesitzer hält seine Zusage, er ist „fair“, was die Absprachen am Markt angeht. Auch in der „Verteilung der Früchte“ übervorteilt oder betrügt er keinen. Es kommt jetzt aber eine dritte Qualität in den Blick: Ihn interessiert, was die Menschen brauchen, was sie nötig haben, um existieren. Es geht ihm – wie natürlich auch Jesus in seiner Verkündigung selbst – um einen neuen Anspruch an das Bestehende: Dieser Anspruch lautete: Barmherzigkeit beziehungsweise Mitleid. Freilich, gerade diese Begriffe sind in der christlichen ‚Verkündigung‘ so lange theologisch hin- und hergekaut worden, dass sie fast unbrauchbar geworden sind; man muss sie deshalb ersetzen durch Worte wie: ‚offenes Verstehen‘, ‚Begleiten ohne Zensur‘, ‚Sensibilität für die Bedürfnisse anderer‘ und so fort.“[4]
„In der christlichen ‚Verkündigung‘ so lange theologisch hin- und hergekaut…“, schreibt Drewermann. Dem Christentum wäre neben dem „Gerechtigkeits-Denken“ oder der „Gerechtigkeit-Sprache“ ein „Barmherzigkeits-Denken“ und eine „Barmherzigkeits-Sprache“ wünschen. Sprache bestimmt Bewusstsein, und Bewusstsein gestaltet Leben. Beides, Barmherzigkeits-Denken und Barmherzigkeits-Sprache kenne ich mehr z.B. aus der Praxis der Achtsamkeitslehre und aus der Praxis der Sozialen Arbeit als aus der gegenwärtigen christlichen Verkündigung. So wichtig, so handhabbar und gestalterisch notwendig die Fragen und Themen der Gerechtigkeit auch sind: Der Gerechtigkeit geht nichts verloren, wenn neben ihr (vielleicht sogar an ihrer statt) die Barmherzigkeit das Zepter führt. Das käme der Praxis des Gutbesitzers im Gleichnis und auch der Praxis Jesu doch sehr nahe.
Amen.
Köln, 22.09.2023
Harald Klein
[1] Drewermann, Eugen (1994): Das Matthäus-Evangelium. Bilder der Erfüllung. Zweiter Teil, Solothurn/Düsseldorf, 502.
[2] a.a.O., 511.
[3] a.a.O., 508.
[4] a.a.O., 503f.