„Der/Die hat Größe…!“
Um gleich mal steil in die Diskussion der Jünger auf dem Weg durch Galiläa einzusteigen, gebe ich Dir die Frage weiter, die sie unterwegs beschäftigt hat: Wer ist eigentlich der Größte – vermutlich „unter ihnen“, aber davon steht nichts im Text.
Oder doch ein wenig abgewandelt, ein weinig abgemildert: Von welchem Menschen würdest Du sagen, er/sie habe „Größe“? Was hast Du mit diesem Menschen erlebt, wie ist er/sie Dir erschienen, was ist vielleicht sogar zwischen Euch geschehen, dass Du ihm oder ihr „Größe“ zusagst?
Ich glaube, es gibt zwei Möglichkeiten, um die Größe eines Menschen – jenseits der Körperlänge natürlich – zu betrachten. Einmal über ein „Optimum“ i.S.v. der Schnellste, der Beste, einer oder eine, die irgendwie „vorne“ liegt. Und zum Zweiten über dessen „Lebenskultur“: ein Mensch hat Größe, wenn er dieses oder jenes kann, sich so und nicht anders verhält und zu seinem/ihrem Wort steht. Das Verrückte ist: Dieser zweite Typ menschlicher Größe ist wesensmäßig meilenweit vom ersten Typ entfernt; „Größe“ geht hier über Lebensführung und nicht über Maße und Messergebnisse.
Also nochmal die Frage an Dich: Von welchem Menschen würdest Du sagen er/sie habe „Größe“? Was hast Du mit diesem Menschen erlebt, wie ist er Dir erschienen, was ist vielleicht sogar zwischen Euch geschehen, dass Du ihm oder ihr „Größe“ zusagst?
Selbstoptimierung vs. Selbstkultivierung
In der Philosophie der Lebenskunst spielt die oben eingeführte Unterscheidung der beiden Typen eine wichtige Rolle. Der Münchner Philosoph Krisha Kops[1] nennt die beiden Pole Selbstoptimierung bzw. Selbstkultivierung.
Will einer der „Größte“ unter dem Diktat der Selbstoptimierung werden oder gar bleiben, hat er es schwer. Die Selbstoptimierung kennt kein Maß. Wer heute vorn liegt, muss Angst haben, morgen von anderen überholt zu werden; Wiederholung ist Stehenbleiben, ist kein Wert! Maschinen, Medizinen und Pestizide dienen der Selbstoptimierung – und der, der der Größte werden oder bleiben will, nimmt oft genug Schaden an Leib und Seele. Aus dem Evangelium fällt mir manches Petruswort ein, was diesem Typ der „Größe“ entspricht.
Aber jetzt: Will einer auf dem Acker der Selbstkultivierung wachsen, wird es ihm schwer werden, einen Vergleichspunkt in der „Größe“ zu finden. Er misst sich nicht mit anderen, sondern nur – und wenn überhaupt – mit sich selbst. Und die Selbstkultivierung fragt immer auch nach den Menschen, mit denen man zusammenlebt, mit dem Ziel, ihnen gegenüber als guter, ja als besserer Mensch gegenüberzutreten. Derjenige, der in der Selbstkultivierung wachsen möchte, braucht keinen Schrittmesser am Arm oder in der Applewatch resp. Garmin. Ihm ist eher eine Art Thermometer hilfreich, der die Atmosphäre bestimmt, in der sein Leben und das Leben um ihn herum geschieht.
Vielleicht stimmt es so: Der Selbstoptimierende läuft dem Leben davon, der Selbstkultivierende nimmt es in den Blick, in die Hände, unter die Füße und gestaltet es (und sich selbst gleich mit).
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten. «
Wachsen und groß werden, oder: Dem Wunder die Hand hinhalten
Mich berührt immer wieder die innere Dynamik dieser Bibelstelle. Als die Jünger mit Jesus in Kafarnaum im Haus (vermutlich des Petrus) angekommen waren, fragt er sie: „Worüber habt Ihr unterwegs gesprochen?“ Und der Evangelist Markus fährt fort: „Sie schwiegen, denn sie hatten auf dem Weg miteinander darüber gesprochen, wer der Größte sei“ (Mt 9,33f). Es scheint ihnen peinlich zu sein, darüber mit Jesus zu reden, wer von ihnen vor und für Jesus der Größte, der optimale Jünger sei. Selbstoptimierung und Nachfolge passt irgendwie nur ganz schwer zusammen – so steht es zumindest im Evangelium!
Aber dann kommt es! Jesus stellt ein namenloses Kind, ein des Schutzes bedürftiges und des Schutzes wertes Namenloses in ihre Mitte, nimmt es in seine Arme und sagt den Jüngern: „Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat“ (Mk 9,36f).
Die Metapher vom Kind in der Mitte spiele mal für Dich durch: Die Aufnahme dessen, was Schutz braucht, was wachsen will, was Leben vor sich hat und was Leben bereichert, gar weitergibt, das mag in Deiner Mitte stehen, das mag angenommen und das mag aufgenommen werden. So geschieht die Selbstkultivierung im Blick auf sich selbst, im Dialog, in Gemeinschaft. Hilde Domin (1909-2006) hat mit einem ganz kurzen Gedicht „Nicht müde werden“[2] der Selbstkultivierung ein Denkmal gesetzt, wohl, ohne diesen Begriff zu kennen:
„Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.“
Im Gedicht von Hilde Domin ist wie im Evangelium bei Markus für Selbstoptimierung kein Raum. Für Selbstkultivierungschon. Was für ein wunderbares Bild für die Frage nach der Größe eines Menschen: groß sind die, die „dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten“ können, Tag für Tag, immer und immer wieder, ohne dabei müde zu werden.
Amen.
Köln, 16.09.2024
Harald Klein
[1] vgl. [online] https://ethik-heute.org/selbstoptimierung-das-vermessene-ich/ [16.09.2024]
[2] Domin, Hilde (1987): Gesammelte Gedichte, 6. Aufl., Frankfurt/Main, 294.