Gegen das Pippi-Langstrumpf- Syndrom
Zum Wahlsonntag eine Predigt schreiben, deren Ausgang so hochgehängt, so dramatisch geschildert wird wie lange bei keiner Wahl zum deutschen Bundestag mehr. Wir wählen, so die einen, die letzte Regierung, die noch imstande sei, dem Klimawandel entgegenzutreten. Wir wählen seit 16 Jahren zum ersten Mal auf einen neuen Bundeskanzler bzw. eine neue Bundeskanzlerin hin, da die noch amtierende Kanzlerin nicht mehr zur Wahl steht. An der Wahl nehmen 53 Parteien teil, und doch ist das Wahlverhalten so programmiert, fast schon so konditioniert, dass uns max. sechs oder sieben Parteien schnell in den Sinn kommen – die Zweitstimme einer der anderen 46 Parteien geben heißt, sie zu verschenken (so die häufig gehörte Meinung). Ob alles beim Alten bleiben wird, ob nur die eine oder andere Schraube gedreht wird? Ob es einen wirklichen Politik-Wandel geben wird, geben kann? Und wie sieht das eine, wie das andere aus? Wer steht mit seinem oder ihrem Namen dafür ein? Steht überhaupt jemand ein? Der Weg von der Antwortlosigkeit in die Politik führt in die Verantwortungslosigkeit, so hörte ich es am Mittwoch auf dem Kölner Heumarkt von Robert Habeck, einem der Bundesvorsitzenden der Grünen.
Alles deutet in diesem Wahlkampf darauf hin, dass wir uns ganz klar entgegen dem Pippi-Langstrumpf-Syndrom verhalten müssen. Es gilt eben nicht: „Ich mache mir die Welt wie sie mir gefällt“! Der und die Einzelne sind aufgefordert, Position zu beziehen, die aktuellen Fragen zu kennen, Antwort zu geben und so Verantwortung zu leben. Das gilt für jeden und jede, die aktiv wählen dürfen und können, nicht nur politische Parteien, sondern auch im alltäglichen Kleinkram, in der Gestaltung von Arbeit, Freizeit, Familie und Beziehung.
Wem dieses oder jenes wichtig ist, der oder die wählt eben dieses oder jenes. Biblisch fallen mir dazu die Pharisäer ein, die dem Pilatus im Prozess gegen Jesus vorhalten: „Wenn du ihn freilässt, bist du kein Freund des Kaisers; jeder, der sich als König ausgibt, lehnt sich gegen den Kaiser auf“ (Joh 19,12).
Die Logik der Welt: „Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich!“
Die Lernpsychologie lehrt uns, dass wir immer wieder gelassen das wählen, das wir kennen. So entstehen die Aufstehrituale, so entstehen Weisen des Umgangs in der Liebe und der Freundschaft genauso wie im Umgang mit bzw. im Umgehen dessen, was uns bzw. die uns einfach nur nerven. Klar war: wer nicht für mich ist, der ist gegen mich. Lange galt das für Parteipolitik, selbst im kleinen Westerwälder Dorf. Mit einer Patentante, die auf Landesebene für die CDU Politik machte, und einem Patenonkel, der der örtlichen SPD angehörte, weiß ich, wovon ich rede, Und als pünktlich 1979, im Jahr, an dem ich 18 wurde, die Grünen zur Wahl anstanden, wurde dieser Leitspruch für einige Tage greifbare Wahrheit: Wer nicht für mich – und meine Partei – ist, der ist gegen mich. Es braucht nicht mehr als acht Zeilen, um darauf hinzuweisen, dass dieser Leitspruch ja auch die Kirchengeschichte zuriefst prägte, nicht nur in der Missionsgeschichte, sondern auch im christlich-jüdischen Verhältnis, man denke an die vielen Zwangskonversionen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Sammlungen der Glaubenssätze im „Denzinger/Schönmetzer“ – benannt nach den Herausgebern – steht, sind voll des „anathema sit“ = (der dieses oder jenes sagt/tut,) der sei ausgeschlossen. In Sachen Zugehörigkeit ist die Kirchengeschichte eher von Exklusion als von Inklusion – zumindest aus freier Zustimmung – geprägt.
Auch vor den Jüngern Jesu macht diese Logik der Welt nicht halt. Steht doch im heutigen Evangelium der Satz des Apostels Johannes: „Meister, wir haben gesehen, wie jemand in Deinem Namen Dämonen austrieb. Und wir versuchten, ihn daran zu hindern, weil er uns nicht nachfolgt“ (Mk 9,38). M.a.W.: Der ist nicht für uns, also ist er gegen uns!
Die Logik Jesu: „Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns!“
Wie wohltuend ist es, wie Jesus der Entrüstung des Johannes den Druck herausnimmt. „Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns!“ Wenn einer heilend unterwegs ist – gut! Wenn eine einem Durstigen zu trinken gibt – gut! Wenn dieser oder jener keinen Grund zum Ärgernis gibt – gut! Und wenn das dann doch anders geschieht, dann ist es besser, die Hand, den Fuß abzuhacken als in die Hölle zu kommen – egal, ob dieser Mensch zu mir gehört oder nicht.
Es geht Jesus wohl darum, die Welt in das umzuwandeln, das er, das wir das Reich Gottes nennen. Entscheidend ist die Umwandlung der Welt, und entscheidend ist der Geist, in dem bzw. das Ziel, auf das hin dies geschieht. Ob das in Christi Namen und in seiner Nachfolge geschieht, ist zweitrangig.
„Die Wahrheit ist symphonisch“, heißt ein kleines Buch des Schweizer Theologen Hans Urs von Balthasar[1], und es trägt den Untertitel: „Aspekte des christlichen Pluralismus“. Es ist ein wenig gemein, diesen Titel in diesem Zusammenhang zu nennen, denn Hans Urs von Balthasar problematisiert den christlichen Pluralismus. Jahre später darf das Wort von der symphonischen Wahrheit den christlichen Pluralismus übersteigen, darf proklamiert, gutgeheißen und gewollt werden und darf andere Religionen oder Weltanschauungen mit in den Blick und in den Diskurs nehmen.
Für das Pippi-Langstrumpf-Syndrom
Für uns Christen steht eine Wahl an – nicht nur heute und zum Deutschen Bundestag, sondern immer wieder. Einerseits kann die Haltung des Apostels Johannes gelten: „Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns“ und dem „anathema sit/der sei ausgeschlossen“ in einem sehr engen Verständnis von Kirche, die dann meist gegen die Welt, ihr gegenüberseht. Andererseits kann das Wort Jesu gelten: „Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns“ und das Bild der symphonischen Wahrheit, die Pluralismus nicht nur annimmt, sondern sogar bejaht, will, ermöglicht. Hier steht die Kirche in der Welt, nicht nur ihr gegenüber. Das Gleichnis vom Sauerteig gefällt mir in diesem Zusammenhang sehr gut: Es geht ums Durchsäuern – von beiden Seiten! Im guten Geist! Aufnehmen und Annehmen, was der Aufnahme und der Annahme wert ist!
Wenn es doch im Bundestag und in der Kirche so eine gemäßigte Pippi-Langstrumpf-Partei gäbe, die mir genauso wie Ihnen, die uns genauso wie Euch erlaubt, die Welt so zu machen, wie sie mir, wie sie uns gefällt – wenn es nur im Geiste Jesu und auf das Reich Gottes hin geschehe, dann wüsste ich, wo ich mein Kreuzchen zu machen hätte. Letztlich ist es das, wofür Kirche Partei ergreifen könnte.
Amen.
Köln 24.09.2021
Harald Klein
[1] Vgl. von Balthasar, Hans Urs (2008): Die Wahrheit ist symphonisch. Aspekte des christlichen Pluralismus, 12. Auflage, Einsideln.