Kluge Unterscheidungen
Es ist eine Binsenweisheit: Zuhause bist Du da, wo Du Dich auskennst; Heimat schenkt Dir, was Dir vertraut ist, doch lokale (oder auch geistige) Unkenntnis oder fehlende Vertrautheit kann Dich zu Misstrauen, mindestens aber zu Skepsis und Unsicherheit führen.
Was Du kennst oder auch wie Du lebst, wird wohl für Dich das Label „normal“ verdienen – das geschieht je selbstverständlicher, desto mehr andere Menschen diese Kenntnisstände und Lebensweisen mit Dir und um Dich herumteilen. Alles andere wäre als „Dir/Euch fremd“ zu bezeichnen, erleidet oft sogar das Label „unnormal“ oder gar „krank“. Das geht einzelnen Menschen so, das geschieht in Gruppen, das geschieht auch in religiösen Einrichtungen oder Institutionen, oft genug sogar durch sie initiiert und vorangetrieben.
Hilfreich wäre es für alle und allemal, das, was mit „unnormal“ oder „krank“ gelabelt oder empfunden wird, in Ruhe und gebotener Tiefe anzuschauen, sich in dessen Nähe zu wagen, das fremde Phänomen abzuwägen, anstatt die Hände abwehrend zu heben und den Blick niederzuschlagen. Angemessen einordnen kannst Du, ja darfst Du doch nur das, was Du kennst. „Kennen“ und „Können“ liegt im Blick auf das menschliche Miteinander sehr nahe beieinander. Und ich halte es sehr mit dem Philosophen der Lebenskunst, mit Wilhelm Schmid: „Alles, was ohne Überlegung geschieht, […] verhindert das Abwägen bei einer bewussten Lebensführung. Die Bewusstheit macht den Unterschied.“[1] Oder auch: „Eine Voraussetzung für die Wahrnehmung von Autonomie ist Informiertheit.“[2] Das gilt natürlich nur für die, die „Lebenskunst“ mit einem „autonomen Leben“ zusammendenken können und wollen, die eher selbst denken und nicht denken lassen.
„Was hat Euch Mose vorgeschrieben?“ – Eine gelabelte Lebensform
Und das ist die Brücke zum heutigen Evangelium. Einige Pharisäer, Schriftkundige und Lehrende, Mitglieder der religiösen Hautevolee, kommen zu Jesus, um ihn aus der Reserve zu locken und ihn vor den anderen „Religiösen“ bloßzustellen. „Ist es einem Mann erlaubt, seine Frau aus der Ehe zu entlassen?“, fragen sie ihn. Doch der Lebenskünstler Jesus wahrt seine Autonomie! Mit der Frage „Was hat Euch Mose vorgeschrieben?“ übernimmt er die Waffe der Schriftgelehrten, der „Religiösen“, nämlich die Lehre, das Gebot, den Katechismus. Brav können die Pharisäer antworten, was Mose über das Ausstellen der Scheidungsurkunde geschrieben hat.
Aber dann wechselt Jesus die Waffen in diesem Zwist. Er lässt die Gebote und die Schrift hinter sich und bedient sich der „Spiritualität“, des Geistes, der hinter dem geschrieben Wort steht. „Hartherzig“ nennt er die Pharisäer, die ein solches geschriebenes Gebot brauchen – denn wenn man es wirklich braucht, wirklich einsetzt, dann ist das Kind schon in den Brunnen gefallen, dann steht die Trennung und die Auflösung der Ehe schon fest. Mit der Trennung ist es wie mit dem Ehebruch, beides fängt zeitlich deutlich vorher an, so Jesus.
Da ist sie wieder, die bewusste, die autonome und die vom Geist gewirkte Lebensführung: Leben ist mehr als das Abarbeiten, das Einhalten, oft genug das stillschweigende Umgehen von Geboten, Leben geht oft über die Gesetze hinaus – seien sie religiöser oder seien sie juristischer Art – hinaus. Es lässt sich nicht „fassen“ in Gesetzen, Geboten, Verboten. Vom Geist gewirktes Leben drückt sich vor allem aus in einer Gesinnungsethik, die den guten Willen betont, in einem Konsequentialismus, der auch die Folgen der Handlung in den Vordergrund der Beurteilung stellt.
Spiritualität ist alltagstauglich, sie geschieht aus einem Geist, der dem Alltag Form und Struktur zu geben weiß. Sie ist dialogisch und gibt Antworten auf die Fragen, die sich stellen, seien es Fragen an die Person, wie hier im Evangelium an Jesus, seien es Fragen zur Sache, wie hier im Evangelium die Entlassung aus der Ehe. Sie ist ausgerichtet auf ein Wachsen im Humanum, auf ein „Magis“ im Menschsein – was das „Religiöse“ allein nicht zu leisten vermag, wie hier die Anweisung des Mose zur Scheidungsurkunde belegt. Christlich oder jesuanisch ist sie dann, wenn sie Maß nimmt an Jesus Christus.
„Was haben wir zu Beginn unseres Weges gesucht?“, könnte eine gesinnungsethische Frage im Zusammenhang von Gehen oder Bleiben in der Ehe sein. „Was ist an Gutem geschehen, wo sind wir gemeinsam gewachsen, und was erfordert Besinnung, Vergebung, Neuanfang?“, so könnten konsequentialistische Fragen lauten. „Wer darf wem aus welchem Grund die Scheidungsurkunde ausstellen“ hilft hier nicht mehr zum Bestand, klärt höchstens die Trennung.
Die Lebenskunst der angemessenen Lebensform
„Ist es einem Mann erlaubt, seine Frau aus der Ehe zu entlassen?“ Heutzutage ist völlig klar, dass es hier um eine personale, nicht um eine rechtliche, juristische Entscheidung geht. Diese Unterscheidung ist eine Frucht der Aufklärung und der daraus entstandenen Moderne: solche komplexe Frage rechtlicher Art regeln Institutionen, nie einer allein (es sei denn, es ginge um den Freitags-, den Samstags- oder den Sonntagabends-Krimi).
Es ist schon auch eine Entwicklung in Sachen „Lebensform“ zwischen der Zeit Jesu und der gerade tagenden Weltsynode in Rom geschehen. Neben dem „einem Mann eine Frau zur Ehefrau geben“ der antiken Zeit kennt der Katechismus von 1992 ausdifferenzierte Lebensformen, die – vom Wesen der Sache verständlich – alle im Raum der Kirche angesiedelt sind. Je nachdem, wohin die Lebenskunst – nach Überlegung, Abwägung und Wahrnehmung von Autonomie (s. Wilhelm Schmid) einen Menschen führt, beschreibt der Katechismus das Sakrament der Weihe, das Sakrament der Ehe, das gottgeweihte Leben in seiner eremitischen Form oder in der Jungfrauen- bzw. Witwenweihe, das Ordensleben, die Säkularinstitute und Gesellschaften des apostolischen Lebens – eben im Raum der Kirche! Alles, was hier gelehrt wird, stimmt, aber eben nur in diesem Raum!
Wie im ersten Satz ganz oben bereits gesagt: Es ist eine Binsenweisheit: Zuhause bist du da, wo Du Dich auskennst; Heimat schenkt Dir, was Dir vertraut ist, doch lokale (oder auch geistige) Unkenntnis oder fehlende Vertrautheit kann Dich zu Misstrauen, mindestens aber zu Skepsis und Unsicherheit führen.
In den ganzen Diskussionen um Lebensformen, um das, was „erlaubt“, „geduldet“ oder „verboten“ ist (von wem und warum eigentlich?), ist es hilfreich, die eigene „Burg“, diesen eigenen „Raum“ zu verlassen und zu hören, zu sehen, was es außerhalb der Mauern gibt.
Da ist z.B. der m.E. unglaublich geglückte Entwurf des Innsbrucker Theologen Franz Gmainer-Pranzl, der versucht, an die Stelle der „-losigkeiten“ der theologischen Entwürfe zu den Lebensformen (Zölibat = Ehelosigkeit, Armut = Besitzlosigkeit, Gehorsam = Willenlosigkeit) eine „Theologie der Gefährtenschaft“ zu entwickeln. Es gibt die „explizite Gefährtenschaft“ zweier Menschen, die sich einander versprechen; es gibt die „implizite Gefährtenschaft“, in der dieses Versprechen in einer Gemeinschaft gegeben und von ihr empfangen wird; es gibt die „Gefährtenschaft“ unter Freundinnen und Freunden, die sich ein Einstehen füreinander versprechen, solange es ihnen räumlich, zeitlich, strukturell möglich ist. In meinem Verständnis und in meinem Erleben denke und deute ich „Gefährtenschaft“ nicht als Verlust oder Verzicht von etwas, sondern von Finden dessen, was ich suche und worin ich leben kann, in anderen Räumen und Verhältnissen als den gewohnten.
Da ist z.B. die Sonderausgabe des Philosophie Magazins vom Sommer 2024, die den Titel „Freundschaft“ trägt.[3] Das erste Kapitel dieser Sonderausgabe fragt: „Ist Freundschaft die bessere Liebe?“ – und hier, wie ähnlich bei Gmeiner-Pranzl, geht es um die Frage der Lebenskunst, die für Dich richtige, stimmige Weise des Zusammenlebens zu finden, und sie im Geist einer gelingenden Spiritualität alltagstauglich, dialogisch und auf ein „Mehr“ an Menschlichkeit hin zu leben.
Da ist die Vielzahl derer, die um ein Ritual für die Feier der Eheschließung anfragen, die zwar neben dem Standesamt, aber eben nicht in einer kirchlichen Feier stattfinden soll – weil sie „Spiritualität“, aber nicht „Religion“ suchen.
Von der Vielfelderwirtschaft der Freunde und Freundinnen
Seit einigen Jahren ist mir der liebste Garant für die Suche und die Entscheidung zu einer – um mein liebstes Wort zu nehmen – Lebensform in der Gefährtenschaft der 2016 verstorbene Journalist und Schriftsteller Roger Willemsen. In einem Interview von 2006 unterscheidet er die „Familie, die er nie gegründet hat“ von der „Vielfelderwirtschaft seiner Freundinnen und Freunde“, deren Teil er ist und die er mitgestaltet. Willemsen erzählt:
„Ich bin aus mehreren und zum Teil auch melancholischen Gründen ein Mann ohne Familien. Die eine Familie, in die ich hineingeboren wurde, die zerplatzte, als mein Vater starb, und die zweite Familie, die ich hätte einheiraten müssen, die habe ich nie gewählt, weil es für mich besser war, mit einer Vielfelderwirtschaft der Freunde und Freundinnen zu leben, und weil sich so die Verhältnisse nie erschöpft haben. Aber es ist wahr, dass meine erweiterte Familie wirklich meine Freunde sind, und ich glaube, Freund sein ist etwas, das ich kann. Also, ich glaube, ich bin eigentlich treu und anhänglich und ein guter Schluffen, und versuche irgendwie, den Menschen, die – ich weiß nicht – die solidarisch sind, die loyal sind, die in der Nähe meiner Überzeugungen wohnen, Leute, die Rückgrat haben, die eine gewissen Unabhängigkeit für sich in Anspruch nehmen, die sind mir wie Trabanten, und ich glaube sehr viel eher, dass ich in einer Gemeinschaft von Freunden am Ende mich befinden werde und nicht in einer Familie.“[4]
Die „Vielfelderwirtschaft seiner Freundinnen und Freunde“ – was für ein herrliches und wohltuendes Wort denen die einen unmittelbaren Zugang und ein Verständnis für diese Metapher haben. Ein drittes- und damit letztes Mal: Es ist eine Binsenweisheit: Zuhause bist Du da, wo Du Dich auskennst; Heimat schenkt Dir, was Dir vertraut ist, doch lokale (oder auch geistige) Unkenntnis oder fehlende Vertrautheit kann Dich zu Misstrauen, mindestens aber zu Skepsis und Unsicherheit führen.
Egal, ob „Vielfelderwirtschaft“ oder nur ein „kleiner Acker“: Ich wünsche Dir eine solche Weggemeinschaft, solche Gefährtinnen und -gefährten, Freundinnen und Freunde, bei denen manchmal die Frage aufkommen darf, ob das geteilte Leben mit ihnen nicht die „bessere Liebe“ sei – und den Mut, sogar die Freude daran gemeinsam zu entscheiden, was erlaubt, geduldet, verboten sei. Und mögen Dir die Pharisäer aller Art mit ihren Scheidungsurkunden aller Art fernbleiben! Positiv gewendet: Möge die Macht mit Dir sein!
Amen.
Köln, 05.10.2024
Harald Klein
[1] Schmid, Wilhelm (2017): Das Leben verstehen. Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers, Berlin, 138.
[2] a.a.O., 192.
[3] Philomag Sonderausgabe 20/2024: Freundschaft, Brunnenstr, 143, 10115 Berlin.
[4] Aus einem Interview von 3sat, gesendet am 21.08.2006; online verfügbar auf [online] https://www.youtube.com/watch?v=EnvYo86iHHE[05.10.2024], das Zitat ist im Video zu finden: 6:43 min – 7:44 min