Gottes Reich besitzen wollen
Mit wenigen Federstrichen kann man das Evangelium dieses Sonntags umschreiben: Ein Winzer verpachtet seinen Weinberg, schickt zur Zeit der Ernte seine Knechte, um seine (!) Früchte abzuholen – die Pachtwinzer prügeln sie aus dem Weinberg, einen Teil bringen sie gar um. Ein zweites Mal schickt der Winzer seine Knechte aus, sie ereilt dasselbe Schicksal. Schließlich schickt er seinen Sohn, die Pachtwinzer erkennen ihn und in ihm den Erben und beschließen, ihn umzubringen, damit sie selbst an seiner statt das Erbe in Besitz nehmen können. Jesus, der den Hohepriestern und den Ältesten dieses Gleichnis erzählt – zumindest wird es ihm von Matthäus in den Mund gelegt – gibt ihnen die Frage auf: „Wenn nun der Herr des Weinbergs kommt: Was wird er mit jenen Winzern tun? Die Antwort wird ihm prompt gegeben: „Er wird diese bösen Menschen vernichten und den Weinberg an andere Winzer verpachten.“
Der Clou steht allerdings erst im letzten Vers: „Das Reich Gottes wird Euch weggenommen und einem Volk gegeben werden, das die Früchte des Reiches Gottes bringt“ (Mt 21,43). „Euch weggenommen…“ – und da sitzen die Hohepriester und die Ältesten des Volkes! In Eugen Drewermanns Worten: „Das ist es, was diese Pachtbauern möchten: Sie möchten das Geliehene als Erbschaft antreten und als Eigenbesitz verwalten!“[1]
Wer ist gemeint? Was ist gemeint? – chronologisch
Die Exegese, die Wissenschaft von der Auslegung und Deutung der biblischen Texte und ihrer Geschichte, kennt zwei Deutungsmuster, die helfen sollen, das Gleichnis von den bösen Winzern zu deuten. Es könnte eine sog. Gesellschaftsallegorie sein. Die Knechte stehen für die Propheten, die allesamt ein gruseliges Leben hatten und viel litten, und am Ende kommt der Sohn. Das zweite Muster setzt beim Geschick Jesu selbst an. Als wolle Jesus auf sich selbst, auf seine Auseinandersetzungen mit dem religiösen Establishment anspielen – den Tod hat er ja noch vor sich hat. Dies wissend, konnte Matthäus in seinem Evangelium Jesus diese Deutung des eigenen Lebens und Sterbens in den Mund legen. Schon weiter vorn im Matthäus-Evangelium, in Mt 12,14, fassen die Pharisäer den Beschluss, Jesus zu töten. Und mit der Frage, was der Herr des Weinbergs mit den Pächtern tun wird, wenn er kommt, wird auf das Gericht, auf den „Jüngsten Tag“ angespielt. Alle Mühe, aller Kampf der „Pachtwinzer“ wird spätestens hier sein Ende finden, wenn Gott selbst kommt. Alles, was sie sich mit Gewalt angeeignet oder was sie sich als ihr Eigenes zugesprochen haben, materiell wie geistlich, wird ihnen spätestens dann genommen.
Würde man chronologisch denken, wäre der „Jüngste Tag“ ein Datum, an dem das Erbe, das Reich Gottes vom Erblasser selbst, von Gott, den Erbschleichern entrissen und denen übergeben wird, die die Früchte des Reiches Gottes bringen (vgl. Mt 21,43).
Wer ist gemeint? Was ist gemeint? – als Kairos
Wenn Sie das Gleichnis nicht mit dem Kalender in der Hand, nicht chronologisch lesen, sondern den sich jederzeit anbietenden Zeitpunkt, den Kairos, in den Blick nehmen, lesen Sie das Gleichnis auf eine ganz andere Weise. Es geht um den Moment, an dem die Entscheidung fällt, wie z.B. wer wie mit dem „Erbe“ umgeht. Dann sind es nicht die Hohepriester, die Pharisäer und Schriftgelehrten, die Ältesten, die das Erbe Gottes, sein Reich, verwaltend und auf Dauer in den Händen halten, die Früchte gebend oder behaltend, die Regeln für die Weitergabe bestimmend und über Zugehörigkeit oder Ausschluss zum Reich Gottes entscheiden. Dann sind es der Kairos und das Gebot der Stunde, dann ist es die Kontextualisierung dessen, was zu entscheiden ist, im dialogischen Miteinander und nicht im tyrannischen Herrscherspruch.
Man mag einwenden, dass es doch um einen festgeschriebenen Bund zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf, seiner Schöpfung geht. Wie kann da der Kairos, der Moment eine so große Bedeutung bekommen – sind doch die Gebote in Stein gehauen (man mag ergänzen: wie auch die Ordnungen und Dogmen der ganzen Kirche)! Dem kann man entgegnen, dass jeder „Bund“ von allen Beteiligten jeden Morgen neu entschieden und gelebt werden muss, soll er lebendig sein und bleiben. Das ist Kairos – Chronos wäre der Moment, in dem etwas beschlossen wurde, dessen Gedächtnis zu festen Zeiten mit festen Regeln gefeiert wird.
Die Erben des Reiches Gottes
Der langen Rede kurzer Sinn: Auf die Frage, wer denn in der Nachfolge des Sohnes Gottes Reich und seine Früchte „erbt“ (nicht: „besitzt“), scheint mir die Antwort Eugen Drewermanns plausibel:
„Wenn es so steht, scheint es mir weit richtiger, wir würden lernen, dass ‚christlich‘ etwas ganz anderes heißen könnte, als sozusagen das Erbe eines getöteten Gottes zu verwalten! Es könnte etwa bedeuten, einem Menschen zuzuhören in seiner Not, so wie sie sich ihm darstellt, und dann gemeinsam mit ihm nach einer Lösung zu suchen, so wie sie sich als plausibel herausstellt. Uns stünden dann überhaupt keine fertigen Wahrheiten als Erbschaftseigentum zur Verfügung, wir wüssten durchaus nicht, was da die ‚Frucht‘ ist, die zu gegebener Zeit von uns eingefordert wird, wir hätten sie nicht immer schon fertig in petto, es müsste von Fall zu Fall wachsen und reifen, was richtig ist. Für keine Situation des wirklichen Lebens verfügten wir über eine Garantie vorweg für Gut und Böse, für Richtig und Falsch – es müsste sich finden. Wir müssten dann damit aufhören, einen (geistigen) Besitz im Namen Gottes zu beanspruchen, wir würden vielmehr einzig darauf hoffen können, dass Gott uns jeweils zeigt, was wirklich ‚ertragreich‘ ist. Das, was als ‚christlich‘ gelten darf, das, was ‚katholisch‘ ist, wäre, so verstanden, völlig identisch mit dem, was sich menschlich evident machen lässt!“[2]
Es mag ein wenig böse klingen, aber dahinter steckt doch die Alternative, Erbe einer Kirche oder Erbe des Reiches Gottes zu sein – und (im wahrsten Sinne des Wortes) Gott sei Dank, dass das Kriterium des Kairos, aber auch das Kriterium der menschlich evidenten Lösungen selbst in der verfassten Kirche gelegentlich auftauchen.
Sie können die Zeit, den Chronos, totschlagen – wie die Knechte und den Sohn im Gleichnis. Aber nichts und niemand kann den Kairos umbringen – er bietet sich uns an oder er entzieht sich uns, und dann, sagt die griech. Mythologie, könne man ihn an seinem Haarschopf fassen! Und siehe da: plötzlich hat man das Reich Gottes und seine Früchte umfasst.
Amen.
Köln, 27.09.2023
Harald Klein
[1] Drewermann, Eugen (1995): Das Matthäus-Evangelium. Bilder der Erfüllung, Dritter Teil, Solothurn/Düsseldorf, 67.
[2] a.a.O., 70.