Attributionen und Affirmationen
„Dass der die Stelle bekommen hat, liegt nur daran, dass …“ oder „Ist ja kein Wunder, dass ich wieder leer ausgehe, weil …“ Oder umgekehrt: „Die wird bestimmt wieder genommen, denn …“ oder „Ich werde bestimmt überzeugen, weil …“ Ich bin mir sicher, dass Sie solche Satzformen, solche Zuschreibungen von Ursachen für erfolgreiches oder erfolgloses Handeln kennen, sei es, weil Sie diese Zuschreibungen auf andere, sei es, weil Sie sie auf sich selbst anwenden. In der Psychologie redet man hier von Attributionen und meint das Zuschreiben von Ursachen für Handlungen und Verhaltensweisen. Die genannte Begründung ist wichtig, keine Attribution kommt letztlich ohne ein „weil“ aus – egal, ob dieses „weil“ der Wahrheit entspricht oder nicht. Sie ahnen es schon: Attributionen dienen vor allem der Bildung von Vorurteilen und Verurteilungen.
Ganz anders ein zweiter Begriff aus der Sozialpsychologie, der ähnlich klingt. Affirmationen sind so etwas wie i.d.R. zustimmende oder bejahende Glaubenssätze, die vor allem in der Selbstmotivation ihre Wirkung zeigen. Es ist eine Frage des Blickwinkels, ob ich sage, ich sei zu langsam oder ob ich denselben Sachverhalt ausdrücke mit „Ich mache das in meinem Tempo“. Ihren verwandelnden Wert haben die Affirmationen, wenn Sie sie wie ein Mantra täglich lesen, meditieren oder sich sagen.
Affirmationen können aus der Hölle der Attributionen befreien, die ich mir selbst sage und die ich selbst glaube. Sie bilden die Brücke vom „Ich tauge nichts“ (und allem, was dazu gehört) zum „Ich bin gut, wie ich bin.“ Sie haben die Kraft, die Resonanz zu ändern, wenn Sie mit sich selbst in Beziehung treten – sie führen aus der Dissonanz in einen Wohlklang.
Die „Normalität des Unrechts“
Im Blick auf das heutige Evangelium spricht Eugen Drewermann von einer „Normalität des Unrechts“: „Die ‚Normalität‘ des Unrechts hat ein Gesicht – nämlich das eines jeden, der sie sich durch seinen eigenen Lebensstil zu eigen macht, und da beginnt das Problem Jesu. Nicht ‚Zustände‘, sondern Standpunkte, nicht Verhältnisse, sondern Verhaltensweisen, nicht Prinzipien, sondern Personen sind sein Thema.“[1] Mit dem Blick auf Attributionen und Affirmationen merken Sie (in Drewermanns Worten) schnell: Standpunkte, Verhaltensweisen, Personen sind Jesu Thema. Die Normalität des Unrechts hat seine Wurzeln darin, dass seitens der Personen, seitens Ihnen und mir, aus- und abstoßende Attributionen auf Menschen hin gedacht, gefühlt, gesagt werden – und dass die Affirmationen, mit denen wir uns selbst begegnen, irgendwie dem Muster „ich genüge nicht“ zugehören. Aufbauende, bestärkende und Halt vermittelnde Affirmationen mir selbst und anderen gegenüber sind meiner Erfahrung nach in Kirche wie Gesellschaft auch eher selten. Es ist wieder ein guter Hinweis Hartmut Rosas und seiner Resonanztheorie, auch mit der „Normalität des Unrechts“ und ihren Standpunkten, Verhaltensweisen und Personen in Resonanz zu kommen und zu sehen, was das auslöst. Das gilt auch mit meinen Standpunkten, mit meinen Verhaltensweisen, mit meiner eigenen Person. Ich frage nach dem Klang, nach der Resonanz, die entsteht, wenn ich mit mir selbst in Kontakt komme.
Die Freude, unnützer Knecht zu sein
Die beiden Begriffen Attribution und Affirmation zielen zum einen auf das Bild, das Sie von einem anderen Menschen haben, zum anderen auf das Bild, das Sie von sich haben. Hier wie dort geht es um Ihren Standpunkt, entweder anderen oder sich selbst gegenüber. Im Evangelium bietet Jesus einen Standpunkt sich selbst gegenüber an, der auf den ersten Blick beinahe herabwürdigend klingt: „Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wurde, sollt ihr sagen: Wir sind unnütze Knechte; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan“ (Lk 17,10). Hören Sie dieses Wort nicht als negative Attribution, sondern als positive Affirmation. Es geht darum, sie als Mensch „verpflanzen“ zu lassen (um ein Bildwort des heutigen Evangeliums aufzugreifen). Drewermann kommentiert: „Menschen lassen sich ‚verpflanzen‘, wenn man sie nicht ‚verpflanzen‘ will, sondern ihnen einen ‚Ort‘ schafft, an dem ihre Verklammerung in einem ungünstigen, falschen, gefährlichen Standpunkt sich erübrigt und von selber ‚aufhebt‘.“[2] Anderen liebevoll und erlaubend als Attribution zuzusagen, sie dürfen unnütze Knechte sein, sie nicht primär nach ihrem Nutzen und ihrem Wert für andere zu sehen, mir selbst dasselbe als Affirmation „Ich darf und will heute unnützer Knecht sein“ zuzusagen und still und einfach das mir (aus mir selbst oder von anderen) Aufgetragene zu tun, hat etwas ungemein Befreiendes und Entlastendes. Es steht für die Freude, aus dem Geschenk des Daseins zu tun, was aufgetragen ist, und es nimmt den Druck, mir dein Dasein verdienen und erwerben zu müssen. Die Attribution und Affirmation des unnützen Knechtes gibt dem Leben Leichtigkeit und hat etwas Spielerisches, Einfaches und doch Gestaltendes. Versuchen Sie es doch einmal mit dieser Affirmation, die vielleicht an einem Post-it am Spiegel im Badezimmer hängt oder im Tagebuch notiert ist: „Ich bin unnützer Knecht, unnütze Magd, ich habe nur meine Schuldigkeit getan.“
Amen.
Köln 29.09.2022
Harald Klein
[1] Drewermann, Eugen (2009): Das Lukas-Evangelium. Bilder erinnerter Zukunft, Bd. 2, Düsseldorf, 340.
[2] a.a.O., 341.