28. Sonntag im Jahreskreis – Auswärts essen gehen

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Die Ausgangslage

Wer in meinem Alter ist und wie ich im Westerwald groß geworden ist, mag den Ausdruck „auswärts essen gehen“ kennen. Er umschreibt eine Besonderheit in jeder Hinsicht! Zwar gab es (in den Sechzigern) in unserem ca. 1000-Seelen-Dörfchen immerhin fünf Gaststätten, eher: Kneipen, aber nur in einer einzigen konnte man z.B. am Abend „etwas Warmes“ bestellen, wenn auch die Karte sehr eingeschränkt war. Bockwürstchen mit Brot und Senf gab häufiger, aber einen „Strahler“ (ein Gericht mit Hackfleisch und Kartoffelsalat) nur in einer der Kneipen, und auch nur, wenn der Wirt wollte.

Und dann der Aufwand: sich von Haus und Hof – und Tisch – lösen; in einem eher armen Haushalt Geld für teures Essen ausgeben, meist im Zusammenhang mit Kartenspiel oder Zechen. Was soll das? Lohnt das? Für was? Für wen?

Oder ein zweites „auswärts essen gehen“: Mein Vater und ich sind in der Kreisstadt zum Einkauf. Am Ende des Vormittags steht ein Mittagessen in der Kantine der Bahn in Aussicht, gleich beim Bahnhof. Natürlich Schnitzel mit Pommes, was sonst. Das ist günstig, und es hat etwas Besonderes, beinahe etwas Anrüchiges, hier „auswärts zu essen“, während Mutter und Schwester zu Hause sind, zu Hause essen.

Und Urlaube? Gab es in meiner Kindheit nicht. Ich kann mich nicht erinnern, mal mit den Eltern und meiner Schwester „auswärts“ in einem Lokal gegessen zu haben.

Die Freude und die Schönheit, das Außergewöhnliche des „auswärts essen gehen“ wurde mir erst gewahr, als ich in der Berufsausbildung war und gelegentlich mit zwei Menschen aus dem Freundeskreis in ein Westerwälder Hotel zum „auswärts essen“ fuhr, wobei hier der Austausch und der gemeinsame Genuss des Essens sich in etwa die Waage hielt. Es waren lange Abende!

» Wie relevant ist eigentlich das kirchliche Gebäude für Euch? [...] Was nutzt es, die äußere Form zu erhalten, wenn ich das Ding nicht mit Leben fülle? «
Pfr. Kiene, in: Rabiat: Deutschland gottlos? Dokumentation von Radio Bremen, 2023, 09:45-08:50 min.

Auswärts essen – bei Gott zu Gast sein

Im Gleichnis vom himmlischen Hochzeitsmahl, das heute im Evangelium zu lesen ist, lädt ein König die von ihm für würdig befundenen Gäste zur Hochzeit seines Sohnes und zum Hochzeitsmahl ein. Sie wollen aber nicht „auswärts essen“, der eine geht auf seinen Acker, der andere in seinen Laden, wieder andere fallen über die einladenden Diener her und bringen sie um. Der König will sein Gesicht nicht verlieren und erklärt die eingeladenen Gäste für nicht würdig. Er schickt ein zweites Mal seine Diener aus, zu den Kreuzungen der Straße, an die Hecken und Zäune und lässt alle, die die Diener treffen, zur Hochzeit einladen. Jetzt füllt sich der Saal, und doch kommt es zu einem Zwischenfall. Einen derer von der Straße trifft der König im für das Hochzeitsmahl unpassenden Gewand an, er lässt ihn an Händen und Füßen fesselt und hinauswerfen in die äußerste Finsternis. Unwürdig sei sein Gewand, so der König, viele seien gerufen, wenige aber auserwählt“ (vgl. Mt 22,14).

» Wer eine Mauer errichtet, wer eine Mauer baut, wird am Ende zum Sklaven innerhalb der Mauern, die er errichtet hat, ohne Horizonte. «
Papst Franziskus (2020): Enzyklika "Fratelli tutti", Nr. 27.

Auswärts essen – nicht, wenn die Diener sich an die Stelle des Gottes setzen!

Radio Bremen hat eine eindrückliche 45minütige Dokumentation in der ARD-Mediathek, die den Titel „Rabiat: Deutschland: gottlos?“ trägt. Eines der fünf Szenarien der Dokumentation[1]: In einem Ortsteil von Brilon soll eine Kirche nicht abgerissen, aber zurückgebaut werden, weil sie für die kleine Gemeinschaft der Gottesdienstbesuchenden viel zu groß sei. Wo in den 60er Jahren noch in drei Messen 900 Mitfeiernde waren, waren es in den 90er Jahren noch 300 und sind es gegenwärtig in der einen Messe rund 30.

Um beim Evangelium zu bleiben: Lange Zeit haben sich die Diener darauf verlassen, sich an die Stelle des Königs selbst setzen zu können; „Gottesdienst“ war ein „Dienst vor Gott“, bis ins Kleinste geregelt, be-schrieben und vor allem vor-geschrieben, und 900, dann 300, jetzt noch 30 haben das bis heute so angenommen. Man war lange quasi „auswärts essen“ beim himmlischen König und seinem Hochzeitsmahl für uns – aber jetzt ist das Gefühl, das Gespür, das Erleben nicht mehr da. Es scheint, als seien jetzt nicht mehr die Gäste, sondern die Form des Mahles nicht würdig, nicht angemessen zu sein. Obwohl wenige hingehen, hängen noch viele am Bau, am Äußeren, heißt es aus der Gemeinde, und der Pfarrer resümiert: „Wie relevant ist eigentlich das kirchliche Gebäude für Euch? Und auch zu sagen: Was nutzt es, die äußere Form zu erhalten, wenn ich das Ding nicht mit Leben fülle?“[2]

„Die Kirche muss sich neu erfinden“, sagt einer aus dem Förderkreis, der den Bau erhalten will, aber gleichzeitig zugibt, an diesem Ort nicht mehr „auswärts zu essen“. In der Osternacht findet er Gemeinschaft – nach der sucht er – im Kreis derer, die das Osterfeuer aufgebaut haben (kurioserweise liegt das in der Verantwortung der Katholischen Jugend des Ortes).

„Die Kirche muss sich neu erfinden“, da geht es nicht um Umstrukturierung von Verantwortlichkeit, von Fragen des Zulassens oder des Verbotes, um Formen und Lieder usw. Da geht es – das zeigt die Dokumentation klar – um das Erleben einer tragenden Gemeinschaft jenseits eins Korsetts kirchlicher Dogmen und Lehren, kirchlicher Moral oder kirchlicher Sprache. Man lässt sich von niemandem mehr sagen, wie diese Gemeinschaft auszusehen und wie sie zu funktionieren habe. Mündigkeit wird betont!

» Yoga oder auch reine Meditation ist an sich eine gute Sache, aber es ist oft auf sich selber bezogen. Wir haben die andern nicht mehr mit im Blick, und die Gemeinschaft nicht im Blick. Yoga kann ich selbst machen, dafür brauche ich keine Gemeinschaft. Ich meine, ich kann mich natürlich auch in meine Kammer setzen und alleine beten, aber es ist immer irgendwie auf den Nächsten verwiesen, wenn man irgendeiner Gemeinschaft, irgendeiner Gemeinde zusammen ist. «
Sr. Luzia, in: Rabiat: Deutschland gottlos? Dokumentation von Radio Bremen, 2023,25:25-25:50 min.

Was, wenn Gott auswärts essen geht?

Der Synodaler Weg ist ein deutscher, die Weltsynode in Rom ein weltumspannender Versuch, in dem die Kirche vorgibt, sich neu erfinden zu wollen. Wieder sind es die Diener, die sich auf den Stuhl des Königs setzen – und dabei gar nicht auf die Idee kommen zu fragen, ob der König nicht längst seinen Stuhl, pardon: seinen Thron geräumt hat, um selbst mal „auswärts essen“ zu gehen.

Kann nicht z.B. eine gelungene Chorprobe oder ein Konzert, an dem ich mitgewirkt oder das ich gehört habe, das mich tief berührt hat, eine Form von Gemeinschaft stiften, die dem „Hochzeitsmahl“ nahekommt? So, dass Gott, der König, sich mir schenkt, sich mir anvertraut hat, mir traut, und ich ihm hier an diesem Ort und in diesem Geschehen mein Vertrauen schenke?

Kann nicht ein vertrautes Gespräch im Kreis der Gefährtinnen und Gefährten in aller Offenheit, Verletzlichkeit und Zartheit zur Erfahrung Gottes werden, der mit bei Brot, Wein und Käse am Tisch sitzt, vielleicht sogar so, dass seine Diener es gar nicht wissen?

Kann nicht die dem Armen gereichte Hand, der Blick, der ihn sieht, das Wort, das ihn tröstet, dem König und so Gott selbst gelten, der jetzt nicht auswärts isst, sondern auswärts hungert?

Das und vieles mehr sind Erlebnisse, die ich in geistlicher Reflektion zu ganz persönlichen Erfahrungen von Kirchemache, mit einem König, der mich zum Mahl einlädt, und der sich nicht scheut, an meinem Mahl teilzunehmen und dabei zu sein.

Bin ich zu sehr selbstbezogen in dieser Deutung? St. Luzia, eine 29jährige Novizin aus der Dokumentation von Radio Bremen, bricht eine Lanze für die Gemeinschaft in der Kirche: „Yoga oder auch reine Meditation ist an sich eine gute Sache, aber es ist oft auf sich selber bezogen. Wir haben die andern nicht mehr mit im Blick, und die Gemeinschaft nicht im Blick. Yoga kann ich selbst machen, dafür brauche ich keine Gemeinschaft. Ich meine, ich kann mich natürlich auch in meine Kammer setzen und alleine beten, aber es ist immer irgendwie auf den Nächsten verwiesen, wenn man irgendeiner Gemeinschaft, irgendeiner Gemeinde zusammen ist.“[3]

» Der Küchentisch, der Konferenztisch oder sogar der gemeinsam genutzte Bildschirm, oder das Wohnzimmer, das Altenheim, das Klassenzimmer, die Bushaltestelle. Alles das sind heute transitorische Orte, die plötzlich verschwinden können, durch eine Flutwelle, eine Pandemie, eine Unternehmensinsolvenz. Was bleibt, das sind aber, im Idealfall, die Beziehungen, die an diesen wechselnden Orten und im Kontext dieser vergänglichen Objekte entstanden sind. Was bleibt, das ist auch die sich hieraus ergebene Bereitschaft, immer wieder neu in Beziehung zur Welt zu treten. Diese Beziehungen können Fremdheit sich selbst und der Welt gegenüber in Vertrautheit verwandeln. «
Reinhard, Rebekka / Vasek, Thomas: Im Wandel zu Hause, in: Hohe Luft 6/2021, 15.

Eine Art Abgesang – aber ein Gesang!

Kirche sei, so die Produzentin der Dokumentation, eine geschrumpfte Version ihrer selbst. Seit Mai 2023 sind mehr Menschen in Deutschland nicht mehr in einer der beiden konfessionellen Kirchen. „Auswärts essen gehen“ könnte für mich geistlich heißen, einen Gottesdienst zu suchen und zu finden, der in allem meinen Hunger nach – ja was eigentlich – stillt. Mit anderen „auswärts essen gehen“ heißt, um deren Hunger wissen und gemeinsam ihn zu stillen versuchen. Finde ich solche Tisch-Gemeinschaft, wo finde ich sie, wie bringe mich ein? Wie so oft liegt die Antwort im „Einfach mal anfangen!“

„Auswärts essen gehen“ mag für Gott selbst heißen, dass er sich einladen lässt, dass er teilnimmt an den Formen der Gemeinschaft und Gefährtenschaft, in denen ich lebe, und dass ich oder wir ihn willkommen heißen dürfen in den Gemeinschaften, die sich „von unten“ bilden, oder die schon da sind.

Sicher wäre es hilfreich, würden die Diener ab und an „auswärts essen gehen“, um zu sehen, was und wer alles da ist, was da alles aufgetischt wird, oder wo es am Nötigsten fehlt. Und irgendwie bin ich mir in einem sicher: Gott selbst wird allemal deutlich öfters „auswärts essen gehen“ als ich es als Kind in meinem Fünf-Kneipen-Dorf getan habe!

Amen.

Köln, 13.10.2023
Harald Klein

[1] Zur Übersticht die fünf Szenarien: (1) In einem Ortsteil von Brilon soll eine Kirche nicht abgerissen, aber zurückgebaut werden, weil sie für die Kleine Gemeinschaft der Gottesdienstbesuchenden viel zu groß sei; (2) eine evangelische Kirche nahe Kelheim ist aufgegeben worden, dient jetzt als kleines Hotel mit Übernachtungsmöglichkeit für größere Gemeinschaften, Gruppen oder Familienfeiern, incl. Orgel und stehengebliebenem Altar; (3) eine 29jährige ehemalige Bäckerin und Studentin der Geologie tritt als Novizin bei den Salzkottener Franziskanerinnen ein, um der Gemeinschaft willen; (4) eine evangelische Pfarrerin ist in der Heimatgemeinde der Moderatorin über ihre Gemeinschaftserfahrungen in genau dieser Kirche im Gespräch, als sie, die Moderatorin hier mit 16 Jahren konformiert wurde; (5) einer Grundschule in evangelischer Trägerschaft droht aus finanziellen Gründen die Schließung; Kinder, Erlern und Lehrende ringen darum, diesen Ort glaubender Gemeinschaft bewahren zu können.

[2] vgl. Anm.3; 09:45-09:50 min.

[3] Sr. Luzia, Franziskanerinnen-Novizin in Salzkotten, im Gespräch mit der Produzentin Katja Döhn, 25.25-25:50 min [online] https://www.ardmediathek.de/video/rabiat-by-y-kollektiv/rabiat-deutschland-gottlos/ard/Y3JpZDovL3JhZGlvYnJlbWVuLmRlLzM4YmMxNjg3LTZhZTAtNDIwNS1iOGY5LWQ2N2RhODY2ZGJkZS9lcGlzb2RlL3VybjphcmQ6c2hvdzplMWM3NTc0YjYwZDVjODA0[13.10.2023]