28. Sonntag im Jahreskreis: „Darf’s ein bisschen mehr sein…?“

  • Auf Links gedreht - Das Evangelium
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„Wie viel …“

Wolfram Eilenbergs ebenso amüsante wie ins Nachdenken führende kleine Einführung in die „Philosophie für alle, die noch etwas vorhaben“[1] beschreibt 25 Alltagssituationen, die Du kennen oder wiedererkennen kannst, sei es aus einem unreflektierten Erleben heraus, sei es durch reflektierte Erfahrung, in der Du sie im besten Sinne des Wortes „nach-denkst“.

Zum Ende des Buches hin beginnt das Kapitel „Die 10-Millionen-Euro-Frage“ mit einer direkten Frage an die Lesenden, die ich Dir mit Vergnügen weitegebe:

„‘Wie viel Geld ich wohl auf dem Konto bräuchte, um nie wieder im Leben arbeiten zu müssen?‘ Geben Sie es zu, die Frage hat Sie schon beschäftigt, intensiv sogar, auf einem einsamen Waldspaziergang, bei einem Abendessen mit Freunden oder der PowerPoint-Präsentation Ihres Vorgesetzten. Nicht, dass Sie Ihre Arbeit hassen, aber mit dem sicheren Bewusstsein, ihr nicht länger nachgehen zu müssen, arbeitete es sich gewiss ganz anders.“[2]

Ich will nicht spoilern, aber in diesem fiktiven Dialog einigt man sich – der Titel der Geschichte verrät es – auf 10 Mio. Euro. Völlig uninteressant, wie der Betrag zustande kommt oder sich zusammensetzt, kommt jetzt die Frage ins Spiel, ob denn wohl auch 9.999.999 Euro genügen würden, oder 9.999.998 Euro. Und Du ahnst es schon – jetzt geht es um die „Schmerzgrenze“. Wie viel „Weniger“ darf es denn sein? Die Antwort pendelt sich bei 6,5 Mio. Euro ein. Und dann kommt die Frage, die über diesem Sonntag steht: Vorhin, sagt der Autor, hast Du noch von 10 Mio. Euro gesprochen, jetzt gibt es die Grenze von 6,5 Mio. Also: Wie viel?

Jede erzählte Geschichte in Eilenbergs Buch hat einen kleinen Anhang, der mit „Was Philosophen darüber denken“ überschrieben ist. Zu dieser Geschichte verweist er auf ein logisches Paradox der abendländischen Philosophie, auf das „Sorites-Argument“. „Soros“ sei das griechische Wort für „Haufen“, und es geht um den Zweifel, wie viele Sandkörnerwohl einen Haufen Sand ergeben. Eilenberger schreibt:

„Ein Sandkorn ergibt keinen Haufen, auch nicht zwei. Aber irgendwann, das wird jeder zugeben, ist der Punkt erreicht, an dem eine gewisse Anzahl von Körnern einen Haufen bildet – wobei es bei einem solch echten Sandhaufen nicht mehr darauf ankommt, ob er aus einem Korn mehr oder weniger besteht. So gesehen sind Haufen also höchst mysteriöse, eigentlich unerklärliche Gebilde – und Gleiches gilt auch für Vermögen in der Höhe von 10 Millionen Euro.“[3]

» Dilige et quod vis fac.« -
» Liebe und tu, was Du willst. «
Die Spielregel Gottes!
Augustinus von Hippo: In epistulam Ioannis ad Parthos, tractatus VII, 8.

„Was …?“

Der Mann, der im Evangelium vor Jesus auf die Knie fällt und fragt: „Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“, fragt nur auf den ersten Blick nach dem „Was?“, er meint aber „Wie viel“!

Was muss er tun, um das ewige Leben zu erben? Die Gebote möge er halten, sagt Jesus, und die habe er, so der namenlose und daher für alle stellvertretende Mann, besser: Mensch  von Jugend an befolgt. Und jetzt die wirklich verrückte Fortsetzung. Aus dem „Was muss ich tun?“ wird ein „Wie viel muss ich geben?“ Jesus schaut ihn an, umarmt ihn und sagt: „Eines fehlt Dir noch. Geh, verkaufe alles, was Du hast, gib es den Armen, und Du wirst einen Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!“ Und Markus erzählt weiter im Evangelium: „Der Mann aber war betrübt, als er das hörte, und ging traurig weg; denn er hatte ein großes Vermögen. Da sah Jesus seine Jünger an und sage zu ihnen: „Wie schwer ist es für Menschen, die viel besitzen, in das Reich Gottes zu kommen.“

» Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen. «
Adorno, Theodor (1951): Hans-Guck-in-die-Luft, in: ders.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/Main, 67.

„Eines fehlt Dir noch …“

Du könntest Strichlisten führen, wie oft Du bewusst die Gebote Gottes gehalten hast, oder umgekehrt, Strichlisten, die dann mit in den Beichtstuhl genommen werden können – die Erfahrung der Erstkommunionkinderbeichte steht da Pate. Das alles ist die Logik des „Wie viel“, und sie kann zum einen – bei Eilenberger – auf ein Leben jenseits der Lohnarbeit führen, zum anderen – im Evangelium – das ewige Leben im Blick haben. Hier wie da gilt die Frage: wie viel Geld bzw. wie viel Erfüllung der Gebote ist „genug“? Wann schweigt das Gefühl, dass Jesus anspricht: „Eines fehlt Dir noch…“?

» Porta patet, magis cor.« -
» Die Tür steht offen, mehr noch das Herz. «
Augustinus von Hippo (5. Jhdt.) zugesprochen, Wahlspruch des Ordens der Zisterzienser

„Dich umarmen lassen …“

Von Jesus umarmt werden und danach betrübt sein – da kann doch was nicht stimmen, oder? Wenn ich mir vorstelle, Jesus säße neben mir im Zimmer, und ich käme mit der einen Frage nach dem Geld auf meinem Konto, dass mir ein arbeitsfreies Leben gewährte oder mit der anderen Frage, was ich tun müsse, um das ewige Leben zu erben, zu ihm, glaube ich, er umarmte mich und gäbe mir eine ähnliche Antwort – und nicht nur das.

„Eines fehlt Dir noch…“, höre ich ihn sagen, und er fragt womöglich nach meinem Ziel. Ob die Utopie eines arbeitsfreien Lebens nicht eher ein Dystopie wäre, etwas in der Zukunft, auf die ich mich in einer Weise ausrichte, dass es mir die Gegenwart, sorry, versaut? Den Blick und das Erleben auf den Reichtum der Gegenwart richten, und dies immer und immer wieder, heißt auch in Zukunft ein reiches Leben zu führen, oder?

„Da sah ihn Jesus an, umarmte ihn…“, sehe ich im Evangelium, erlebe und erfahre es im Gebet. Ich weiß nicht, ist mehr Witz oder mehr Traurigkeit in dieser Umarmung? Ich ahne, es geht darum, das Bilanzieren, das Zählen zu lassen – wie oft ich die Gebote gehalten, missachtet habe, was unterm Strich übrigbleibt. Die Frage ist schon falsch! Nicht „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“ Stattdessen das Ziel, der Weg: “Halt die Sinne und den Verstand wach, um das Leben, das ewige Leben zu erkennen, um einzusteigen in das Reich Gottes, das schon mitten unter Euch ist, das Dir geschenkt ist“.

Vielleicht sind der erdachte Reichtum und die Gebote Gottes nur Schlüssel, die eine Tür wieder öffnen können, die durch mein Versehen oder Versagen zugefallen ist. Ich habe meinen Reichtum und ich kenne die Gebote Gottes. ich bräuchte ich sie nicht  als Geländer oder Richtschnur, wenn ich mit wachem Sinn und klarem Verstand in Gottes Geist durch die Welt gehe.

Das, genau das ist es, was ich in der Umarmung Jesu zu spüren, zu entdecken glaube: Seine Türen stehen für mein und Dein Leben offen – und in der Nachfolge Jesu gilt das auch für meine Tür. Sei willkommen!

Mit einem Dank an Wolfram Eilenberger,

Amen.

Köln, 11.10.2024
Harald Klein

[1] Eilenberger, Wolfram (2005): Philosophie für alle, die noch etwas vorhaben, Berlin, hier 192-200.

[2] a.a.O., 192.

[3] a.a.O., 200.