28. Sonntag im Jahreskreis – Die Christologie der Dankbarkeit

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Die Geschichte ist schnell erzählt…

Jesus geht im Grenzgebiet (!) von Samarien und Galiläa in Richtung Jerusalem, da kommen ihm zehn Aussätzige entgegen. Sie rufen ihn um sein Erbarmen an, er schickt sie zurück – oder, aus seiner Perspektive, vor – nach Jerusalem: „Geht, zeigt euch den Priestern.“ Auf dem Weg nach Jerusalem werden sie rein. Einer von ihnen, ein Samariter, dreht um, geht zurück und dankt Jesus mit Wort und Tat. „Wo sind die anderen neun“, fragt Jesus. “Ist denn keiner umgekehrt außer diesem Fremden?“ Und zu ihm sagte er: „Steh auf und geh! Dein Glaube hat Dir geholfen.“ (Lk 17,11-19) – Wie gesagt, die Geschichte ist schnell erzählt…

» Wie ist es möglich, Menschen zu heilen? [...] Durch eine großzügige Bereitschaft zum Teilen, durch eine weitherzige Fähigkeit zur Vergebung (Lk 17,3b-4) und durch ein ‚Bäume verpflanzendes‘ Vertrauen (Lk 17,6), auf dass zwischen Gott und Mensch nicht die Eigenheiten und Eigenwilligkeiten der eigenen Person als Sperrwald sich aufrichten. «
Drewermann, Eugen (2009): Das Lukasevangelium Bd.2: Bilder erinnerter Zukunft, Düsseldorf, 357.

… aber nicht so schnell zu verstehen

Wenigstens einer von den zehn Aussätzigen – und der war ein Samariter. Kein Wunder, dass er Jerusalem den Rücken zukehrt, ist es doch die Stadt, in der die oberste Religionsbehörde der Juden sitzt – und darin die Menschen, die dem Samariter klar und deutlich sagen: „Du nicht! Du gehörst nicht zu uns! Du bist Ausländer aus Israel, wir hier sind Juden aus Judäa. Und Dein, Euer Tempel auf dem Berg Garizim hat nichts gemein mit unserem Tempel in Jerusalem.“

Wenn man das weiß, versteht man, warum der Aussätzige und langsam wieder heil werdende Samariter dann doch lieber zu Jesus umkehrte und ihm dankte als den Priestern in Jerusalem. Mit Menschen zusammenzukommen, die einem immer nur die Fehler, die Vergehen, das Falschsein vorhalten, ist nicht lebensfördernd, macht krank. Um es mit Eugen Drewermann zu sagen: „Wie ist es möglich, Menschen zu heilen? […] Durch eine großzügige Bereitschaft zum Teilen, durch eine weitherzige Fähigkeit zur Vergebung (Lk 17,3b-4) und durch ein ‚Bäume verpflanzendes‘ Vertrauen (Lk 17,6), auf dass zwischen Gott und Mensch nicht die Eigenheiten und Eigenwilligkeiten der eigenen Person als Sperrwald sich aufrichten.“[1]

Und: Aussatz macht dünnhäutig. Der Schutzmantel, den die Haut zwischen Innen und Außen darstellt, wird zerstört. Jede Ansehnlichkeit eines Menschen, der an Aussatz erkrankt, ist dahin, jede Form der Berührung, der Zärtlichkeit scheint verboten, verspricht zumindest nichts Gutes. Vielleicht gibt der Rückblick auf die ersten Monate der Pandemie eine Ahnung, ein Einfühlen in das, was den Samariter zur „Umkehr“ zu Jesus getrieben hat. Die Heilung hebt all das auf: die Dünnhäutigkeit ist ertragbar geworden, der Schutzmantel zwischen Innen und Außen funktioniert wieder, Berührung und Zärtlichkeit werden erfahren und/oder verschenkt. Sind die Menschen, sind die mit Krankheit Geschlagenen wirklich von Gott geschlagen? „Anders, ganz anders in der Sichtweise Jesu: Da sind die Dinge, wie sie sind, und es kommt ‚nur‘ darauf an, menschlich ‚richtig‘ damit umzugehen. Nicht die Herkunft der sinnlich erfahrbaren Ereignisse, sondern die Hoffnung einer sinnvoll lebbaren Existenz entscheidet sich an und mit der Frage nach Gott.“[2]

» Wer ist Jesus dann? Er ist derjenige, der diese Öffnung Israels zur Welt der ‚Heiden‘ hin ermöglicht hat. Was hier anhebt, ist eine allen ‚Kirchen‘ ferne, doch dafür menschheitliche ‚Christologie‘ der Dankbarkeit. Seit dieser eine Aussätzige, der Samariter, geheilt wurde und voller Dankbarkeit, statt in den Tempel zu gehen, zu dem Mann aus Nazareth zurückkam, gibt es auf Erden keine ‚Ausgesetzten‘ mehr – nur noch Kinder eines Gottes, welcher der Vater aller ist. Und wer von Jesus sagen kann: ‚Ich bin durch sein Wort heil geworden‘, der ist ein Christ durch sein Vertrauen in den Gott Israels, wie Jesus ihn uns zeigte. «
Drewermann, Eugen (2009): Das Lukasevangelium Bd.2: Bilder erinnerter Zukunft, Düsseldorf, 367.

Eine Christologie der Dankbarkeit

Diese Begegnung Jesu mit den zehn Aussätzigen kann mich zu einer „Umkehr zur Dankbarkeit“ oder zu einer „Einübung in Dankbarkeit“ anstiften. Beide Haltungen sind selbstredend.

Die „Umkehr zur Dankbarkeit“ hält wach, dass nichts, aber wirklich auch nichts und niemand „Selbst-Verständlich“ ist. Leben ist nicht nur „Ziel-Gerichtete Hin-Wendung“, Leben geht nicht so, dass ich „Selbst-Redend“ nur nach vorn schaue und in den Blick nehme, was kommt. Zum Leben gehört auch die „Um-Kehr“, die „Kehrt-Wende“ zur Dankbarkeit. Das Ahnen, das glaubende Wissen, woher ich komme, wer mich zum Gehen befähigte und wer mir den Blick auf Ziele richtete, die einzufangen sich lohnte. Wichtiger als der ritualisierte Dank im Tempel ist der der immer wieder aktuelle Dank dem und denen gegenüber, die mich heil gemacht haben und mir Heil und Leben sind.

Die „Einübung in Dankbarkeit“ ist so etwas wie ein ins Ritual gefasstes Umkehren zur Dankbarkeit. „Rituale sind symbolische Handlungen. Sie tradieren und repräsentieren jene Werte und Ordnungen, die eine Gemeinschaft tragen. Sie bringen eine Gemeinschaft ohne Kommunikation hervor, während heute eine Kommunikation ohne Gemeinschaft vorherrscht. Konstitutiv für die Rituale ist die symbolische Wahrnehmung.“[3]

Eine Weise des Tagebuchschreibens oder des Journallng ist die T-L-C-Methode; eine persönliche Entwicklung kann begleitet werden durch „T“ für thanks (Dank), „L“ für learn (Lernen) und „C“ für connect (sich verbinden). Bei Rückblick auf einen Tag oder eine Wegstrecke – wie der Samariter – kann so konkret wie möglich festgehalten werden, wofür ich besonders dankbar bin (“als er sah, dass er geheilt war…“), was ich gelernt oder erfahren habe („Heilung geschieht am Weg…“) und mit wem oder was ich Verbindung gesucht habe („er lobte Gott mit lauter Stimme“ und „er warf sich vor den Füßen Jesu vor sein Angesicht“). Persönliche Entwicklung geschieht dadurch, dass aus diesen „Einzelfällen“ Routinen, Gewohnheiten werden können, die überprüfbar sind.[4] Eine Fülle von „Dank-Tagebüchern“ zum gelenkten Notieren gibt Zeugnis davon, wenn Se möchten, googlen Sie den Begriff mal.

Neben der „Umkehr zur Dankbarkeit“ und der „Einübung zur Dankbarkeit“ hat diese Erzählung ein drittes Moment. Eugen Drewermann spricht von der „Christologie der Dankbarkeit“ und schreibt: „Wer ist Jesus dann? Er ist derjenige, der diese Öffnung Israels zur Welt der ‚Heiden‘ hin ermöglicht hat. Was hier anhebt, ist eine allen ‚Kirchen‘ ferne, doch dafür menschheitliche ‚Christologie‘ der Dankbarkeit. Seit dieser eine Aussätzige, der Samariter, geheilt wurde und voller Dankbarkeit, statt in den Tempel zu gehen, zu dem Mann aus Nazareth zurückkam, gibt es auf Erden keine ‚Ausgesetzten‘ mehr – nur noch Kinder eines Gottes, welcher der Vater aller ist. Und wer von Jesus sagen kann: ‚Ich bin durch sein Wort heil geworden‘, der ist ein Christ durch sein Vertrauen in den Gott Israels, wie Jesus ihn uns zeigte.“[5] (367f)

Die „Christologie der Dankbarkeit“ ist allen Kirchen fern, weil diese Dankbarkeit der einmaligen, der existenziellenErfahrung geschuldet ist, sie bezieht sich auf Dich und mich, auf Sie und die jeweils Ihren. In diesem Sinne ist sie menschheitlich, um Drewermanns Wort aufzugreifen.

Das könnte die Botschaft des ehemals aussätzigen und ausgesetzten Samariters sein: Sich denen dankbar zuwenden, denen ich Dank schulde („Umkehr zur Dankbarkeit“); mir dies zur Regel machen – ein Dankbarkeitstagebuch kann da Hilfe sein („Einübung in Dankbarkeit“); in der Haltung der Dankbarkeit und im Danken selbst meinen Bezug zu Christus, meinen Glauben leben.

Amen.

Köln 30.09.2022
Harald Klein

[1] Drewermann, Eugen (2009): Das Lukas-Evangelium. Bilder erinnerter Zukunft, Bd. 2, Düsseldorf, 357.

[2] Drewermann, Eugen (2009): Das Lukas-Evangelium. Bilder erinnerter Zukunft, Bd. 2, Düsseldorf, 363.

[3] Byung-Chul Han (2019): Vom Verschwinden der rituale. Eine Topologie der Gegenwart, 2. Aufl., Berlin, 9.

[4] Im Sinne der Resonanztheorie (vgl. Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., Berlin) ist diese Weise des „Journaling“ gut geeignet, Resonanzerfahrungen zu notieren, zu beschreiben, auf ihre Wiederkehr und darüber auf ihre Stimmigkeit für mein Leben zu überprüfen und den Modus der Beziehungen beizubehalten oder zu ändern.

[5] Drewermann, Eugen (2009): Das Lukas-Evangelium. Bilder erinnerter Zukunft, Bd. 2, Düsseldorf, 363.