Die Frage
„Was bin ich schuldig?“ – Wenn Sie bei Aldi oder Rewe an der Kasse stehen, würden Sie so nie fragen. Das Etikett gibt den Preis der Waren an, was Sie da mitnehmen, und die Summe, die Sie zahlen müssen, entspricht (hoffentlich) die Summe der Einzelwaren, der Einzeletiketten, die auf die Waren aufgeklebt sind.
Bei Dienstleistungen ist das oft anders. „Was bin ich Dir/Ihnen schuldig?“ fragen Sie dann, wenn Ihnen etwas zugutegekommen ist, das vielleicht ausgezeichnet in seiner Qualität und aussage ist, aber nicht ausgezeichnet in seinem Preis. Etwas, dem das Etikett fehlt.
Und noch einmal anders ist es im Feld der Beziehungen, der Freundschaften, des partnerschaftlichen Miteinanders. Hier von Waren oder Dienstleistungen zu sprechen, die ihren Peis haben, hieße, diese Form von Verhältnissen zueinander um ihr Leben bringen.
Allein diese Vorbemerkung würde genügen, das Evangelium des heutigen Sonntags mit seinem „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört“ deuten zu können. Dem Kaiser gegenüber geht es um Waren und Dienstleistungen, die er seinem Volk angedeihen lassen sollte, und in die hinein die ihm Zugehörigen verstrickt, eingebunden sind. Gott gegenüber geht es um, ja um was? Eine Art Handelsvereinbarung vielleicht: Ich gebe, damit Du gibst – „do ut des“, um es im Theologenlatein auszudrücken? Oder um einen Bund mit einseitigen Gesetzen und beidseitigen Pflichten und Verpflichtungen? Oder um eine Art (Liebes-) Beziehung, bei der die eine Seite gedacht, zugesagt, erhofft ist? Dem Kaiser geben, was dem Kaiser gehört, das ist handfest. Aber Gott geben, was Gott gehört?
Zwei Gedanken aus anderen Zusammenhängen können hier vielleicht Klarheit geben.
Erster Gedanke: Verschränkung der Zeithorizonte
In seinem Rückblick auf das Jahr 1923 schreibt der Journalist und Historiker Volker Ulrich: „Für viele Deutsche war die plötzliche Entwertung ihrer Vermögen und Ersparnisse eine traumatische Erfahrung, von der sie sich niemals ganz erholen sollten. Die Angst vor einer neuen Inflation wurde an die nachfolgende Generation weitergegeben. Sie ist in Deutschland bis heute viel virulenter als in anderen europäischen Ländern. So erklärt sich auch, dass, als im Zuge der Corona-Pandemie die Preise stark angestiegen, sofort das Gesprenzt der Hyperinflation von 1923 beschworen wurde. Man tut allerdings gut daran, die Unterschiede zwischen den heutigen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen und der damaligen singulären Konstellation nicht aus dem Auge zu verlieren. Die vorliegende Darstellung soll den Blick dafür schärfen.“[1] Der Geist dieser Jahre ist in der TV-Serie „Babylon Berlin“ beeindruckend verfilmt worden.
Analog zu dem, was Volker Ulrich zur Geschichte der Inflation“ schreibt, können Sie Ihre ganz eigene „Geschichte mit Gott“ in drei Schritten – quasi „gottes-geschichts-didaktisch“ betrachten:
Der erste Schritt: „Vergangenheitsdeutung“: Was ist damals passiert? Im Zitat sind das die beschreibenden Passagen über „plötzliche Entwertung ihrer Vermögen und Ersparnisse“ oder die „traumatische Erfahrung, von der sie sich niemals ganz erholen sollten“. Wenn die Frage im Raum, was Sie Gott schuldig sind, braucht es eine Beschreibung dessen, wie Sie ihn in der Vergangenheit erfahren haben, wie und worin er sich – in Ihrer ureigenen Deutung – gezeigt hat. Auf welche Weise hat Gott Sie angesprochen? Auf wen, auf was schauen Sie zurück, wenn Sie auf Gott und seine Geschichte mit Ihnen zurückschauen?
Der zweite Schritt heißt in der Geschichtsdidaktik „Gegenwartserfahrung“. Im Zitat sind das die überlieferten Erinnerungen an die Hyperinflation in Zeiten der Corona-Krise. Die Erfahrungen, die Sie jetzt auf Gott hin machen, gleichen Sie mit denen aus Ihrer Vergangenheit ab. „Gebt Gott, was Gott gehört“ – was war das früher? Was ist das heute? Was kann es heute sein? Gibt es überhaupt (noch) einen Anspruch Gottes, ihm etwas (zurück) zu geben? Gibt es noch den „Gott von früher“ in meiner Gegenwart?
Der dritte Schritt ist die „Zukunftserwartung“: Im Zitat spricht Volker Ulrich vom „Beachten der Unterschiede in den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen“, und „vom geschärften Blick für das, was jetzt ist.“ Das ist die Frage schlechthin: Was erwarten Sie (noch) von Gott? Aus der Gegenwart in die Zukunft schauen Was erhoffen, erbitten Sie (noch) von ihm? Was sind Sie bereit, für ihn zu tun?
Im Verschränken der Zeithorizonte[2], von erlebter Vergangenheit, gedeuteter Gegenwart und erhoffter Zukunft erwächst die Antwort auf die Frage, was – wenn überhaupt – ich Gott schuldig bin. Da geht es wohl weder um Waren oder Dienstleistungen, sondern um Deutungsmuster und daraus erwachsenden Haltungen und Beziehungen.
Zweiter Gedanke: Altes Denken und neue Zukunft
Den zweiten Gedanken aus einem anderen Zusammenhang steht im Zusammenhang mit dem Begriff der Transformation. Er stellt so etwas wie die Kehrseite des Begriffs der Krise dar. Der Jesuit P. Fabian Moos SJ definiert die Große Transformation als den grundlegenden Wandel hin zu einer zukünftigen, ökologisch nachhaltigen und sozial gerechten Zivilisation im Rahmen der planetaren Grenzen[3] und meint eine fundamentale sozial-ökologische Umkehr.
Im Zusammenhang mit der Frage, was Christen Gott schuldig seien, in der Frage danach, was es ist, was ihm gehört, hilft angesichts der vielen Krisen und der einen Großen Transformation ein Zitat von Albert Einstein. Einstein sagt: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sein entstanden sind.“[4] Wenn es früher die verfasste Religion war, die vorgab, was man denn Gott geben oder „aufopfern“ müsse – denken Sie an das Nüchternheitsgebot, den Fleischverzicht am Freitag, an sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe, an die Bestimmungen zur Gestaltung der Fastenzeit usw. – , dann ist klar, dass diese Formen des „Gott geben, was Gott gehört“ für eine Transformation der Welt aber nun wirklich keine Rolle mehr spielt. Eine andere Denkweise muss her – meint zumindest Einstein!
Im Rückgriff auf den Vortrag von P. Moos SJ sei die These gewagt: Wer Gott heute sein oder ihr „Ja“ geben will, wird mehr und mehr auch sein oder ihr „Nein“ zu dem vertrauten alten Wegen mitsagen müssen. Mit Gott nicht zurück, sondern nach vorn schauen: in geistlicher Unterscheidung (was gibt Trost, was führt in den Misstrost?), im klugen Hinschauen auf das, was in Ihnen und um Sie herum geschieht, erwächst eschatologische Spiritualität, die von Gott her, aus der Zukunft heraus in die Gegenwart hinein spricht.[5] In kleinen und großen Gemeinschaften, die diese Welt nicht fortführen, sondern neu gestalten wollen, die aus der Hoffnung auf einen mitgehenden Gott lebt, aus dem Glauben an die Möglichkeit der Auferstehung und mit einem Blick nach vorne, gottwärts, offen sind für das, was von daher kommt.
Auf die anfangs gestellte Frage „Was bin ich schuldig?“ könnten Sie von Gott her womöglich hören: „Wandel, Transformation, und das Ja zu den Schwestern und Brüdern.“ Oder „Eine gute Beziehung zu Dir selbst, zu den anderen, zur Schöpfung, zu Gott.“ Das ist nicht wenig, und beinahe alles hängt daran.
Amen.
Köln, 21.10.2023
Harald Klein
[1] Ulrich, Volker (2023): Deutschland 2023. Das Jahr am Abgrund, 2. Aufl., München, 13.
[2] Ich danke M.B. für ein erhellendes Abend- und Frühstücksgespräch zum Thema „Verschränkung der Zeithorizonte“.
[3] vgl. den Vortrag von P. Fabian Moos SJ beim Gesamttreffen der GCL im Herbst 2023 [online] https://www.youtube.com/watch?v=-B7thoJjiKg[21.10.2023]
[4] vgl. [online] https://www.geo.de/geolino/mensch/19221-rtkl-sprueche-albert-einstein-seine-schoensten-zitate [21.10.2023]
[5] P. Fabian Moos SJ sprich im o.a. Vortrag von „contemplatione in transformatione“ im Unterschied zum „contemplatione in actione“, und formuliert darin einen guten Wegignatianischer Spiritualität für die Gegenwart.