29. Sonntag im Jahreskreis – Zum wem komme ich, wenn ich zu mir komme?

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Gestützt werden, um zu bestehen

Ich kenne es nur vom Hören, das, was in der Medizin als „künstliches Koma“ beschrieben und von Menschen in Hospitälern erlebt bzw. gerade nicht erlebt wird. Bei lebensbedrohlichen Zuständen wird es eingesetzt, um den Körper zu entlasten, auch, um Heilung zu fördern. Das „künstliche Koma“ bringt jedes Bewusstsein in mir zum Schweigen, lässt mich in ein Nichts fallen, um mich dann irgendwann wieder heraus- oder heraufzuholen aus einer Tiefe, der ich mir nicht bewusst war, und lässt mich zu gegebener Zeit wieder zu mir kommen.

Eine kleine Betonung und ihre Veränderung in diesem „zu sich kommen“ verändern einen ganzen Satz. Im „künstlichen Koma“ können z.B. Angehörige fragen: „Wann kommt er, wann kommt sie wieder zu sich?“ In den komanahen oder komagleichen Zuständen des alltäglichen Lebens wird eher die letzte Silbe betont: „Wann kommt er, wann kommt sie wieder zu sich?“ Spüre dem Unterschied in der Bedeutung der Betonungen ruhig mal nach.

Wenn du in der Klinik wieder zu dir kommen sollst oder kannst, wenn du in diesem Sinne wieder wach wirst, wird dir gewiss Fachpersonal zur Seite stehen, Menschen, die dich stützen, aufrichten, mit dir reden und dich so zurückholen in den Alltag, vielleicht nach schmerzhaften oder beunruhigenden Operationen, aber da stehen dann dich stützende Menschen neben und hinter dir.

Und wie sieht das aus, wenn du wieder zu dir kommen willst oder sollst? Aus welcher Art Koma oder Schlaf wachst du dann auf? Noch schärfer: Zu wem kommst du, wenn du zu dir kommen willst oder sollst? Oder wo bzw. bei wem warst du, wenn du eben nicht bei dir warst? Gibt es da auch „Fachpersonal“, das dir zur Seite steht, Menschen, die dich stützen, aufrichten, mit dir reden und dich so zurückführen zu dir, vielleicht auch nach ganz anderen schmerzhaften oder beunruhigenden Operationen anderer Art, die dann hinter dir sind.

Egal wann, wo, warum oder wie: Wohin oder von wo kommst du, wenn du zu dir kommst – oder: Wohin oder von wemkommst du, wenn du zu dir kommst?

» Nicht an einem Mangel an Religion im gewöhnlichen Sinn des Wortes leidet die Welt, sondern an einem Mangel an Liebe, einem Mangel an Bewusstheit. Liebe wird durch Bewusstheit geweckt und durch nichts anderes sonst. «
de Mello, Anthony (1992): Der springende Punkt. Wach werden und glücklich sein, 2. Aufl., Freiburg, 189.

Das Armutszeugnis des gottlosen Richters

Der lange Vorspann soll hinführen zum heutigen Evangelium und zu dem Richter, der Gott nicht fürchtet und auf keinen Menschen Rücksicht nimmt. Von ihm erzählt Jesus, dass eine Witwe ihm immer wieder auf den Pelz rückt und fordert, er möge ihr Recht verschaffen gegen ihre Widersacher. Lange Zeit will er nicht, dann aber sagt er: „Ich fürchte zwar Gott nicht und nehme auch auf keinen Menschen Rücksicht; weil mich diese Witwe aber nicht in Ruhe lässt, will ich ihr Recht verschaffen. Sonst kommt sie am Ende noch und schlägt mich ins Gesicht“ (Lk 18, 4f).

Das „dann sagt er sich…“ ist bei Martin Luther und in seiner Übersetzung des Lukas-Evangeliums übersetzt mit „Danach aber dachte er bei sich selbst…“, bei Fridolin Stier heißt es: „Danach aber sprach er zu sich…“ und Josef Kürzinger verwendet ähnlich: „Dann aber sagte er sich…“.

Zu wem spricht der Richter, wenn er zu sich spricht? Und: Zum wem kommt der Richter, wenn er zu sich kommt? Er ist nur bei sich und kommt über sich selbst nicht hinaus. Es geht dem Richter, diesem Egomanen, in seinem Gespräch mit sich selbst eben nur um sich selbst, um seine Ruhe, um sein Ansehen, um seine Angst, die Witwe könne kommen und ihn aufgrund seines Nichtstuns ins Gesicht schlagen.

Wenn man es in frommen Worten ausdrücken will: Dieser Richter – und Menschen, die so egoman veranlagt sind wie er – kommt im dreifachen Gebot der Gottes- der Nächsten- und der Selbstliebe über die Selbstliebe nicht hinaus, wenn da überhaupt von Selbstliebe die Rede sein kann.

» Man muss die Segel in den unendlichen Wind stellen, dann erst werden wir spüren, welcher Fahrt wir fähig sind. «
Delp, Alfred (1984): Das Gesetz der Freiheit. Epiphanias 1945, in: Bleistein, Roman (Hrsg.): Alfred Delp. Gesammelte Schriften, Bd.4: Aus dem Gefängnis, Frankfurt/Main, 218.

„Hoffentlich ist jemand daheim“

Ein Zeitsprung zu Karl Valentin (1882-1948), dem bayrischen Komiker, Volkssänger und Autoren. Eine seiner nur auf den ersten Moment „komischen“ Aphorismen lautet: „Heute besuche ich mich selbst – mal sehen, ob ich da bin“, oder ähnlich: Heute gehe ich mich besuchen. Hoffentlich bin ich zu Hause“. Diese beiden Aphorismen von Karl Valentin (und damit der Besuch bei dir selbst) können dir – wie die Menschen in der Klinik – eine Stütze sei, sowohl zu dir zu kommen als auch zu dir zu kommen.

Wenn du deine Wege und Mittel hast, aufzubrechen (herrlich doppeldeutiges Wort) und dich auf den Weg zu einem Besuch bei dir selbst zu machen, um so besser. Auf der Homepage des Bistums Speyer sind unter dem Stichwort „Heute besuche ich mich selbst“ im Zusammenhang mit Verarbeitung von Trauer über einen geliebten verstorbenen Menschen sechs kleine Impulse aufgelistet, die helfen können, von der Trauer und Angst über einen Verlust zur Umkehr zu sich selbst zu finden – d.h. den umgekehrten Weg des Richters aus dem Evangelium zu gehen, der ihm fehlt: da ist ein Unverständnis in der Gottesliebe und ein Verlust in der Nächstenliebe, sodass nur das ansetzen bei der Selbstliebe bleibt, um die anderen beiden „Lieben“ wieder zu finden.

Die Seite des Bistums Speyer spricht von einem „hohen Besuch“, wenn du dich selbst besuchst. Und die Vorbereitungen, die die Seite nennen, sind: (1) Nimm ein Bad oder dusche mit einem belebenden Duschgel. (2) Zieh deine Lieblingskleider an. (3) Räume auf und stelle eine Blume in die Vase auf den Tisch. (4) Koche dir dein Lieblingsessen und lasse es dir schmecken. (5) Höre deine Lieblingsmusik. Vielleicht hast du Lust, zu tanzen oder laut mitzusingen. (6) Gönne dich dir heute selbst![1] Klingt einfach, wirkt aber!

» In uns strömen Quellen des Heiles und de Heilung. Gott ist als ein Brunnen in uns, zu dem wir zu Gast und Einkehr eingeladen sind. Diese inneren Quellen müssen wir finden und immer wieder strömen lassen in das Land unseres Lebens. Dann wird keine Wüste.«
aus: Delp, Alfred (2019): Aufzeichnungen aus dem Gefängnis, Freiburg.

Nochmal: zu dir kommen – zu dir kommen

Der Richter im Evangelium ist in sich gegangen und zu sich gekommen, damit durch sein Handeln die in seinen Augen aufdringliche Witwe ihn selbst in Ruhe lasse und ihn nicht vor anderen bloßzustellen vermag. Die Sorge um sich selbst war wohl sein eigentliches Motiv für dies Art von „Besuch“.

Was magst du vorfinden, entdecken, mit Freude oder auch mit Erschrecken, wenn du zu dir gehst, wenn du diesen Besuch bei dir wagst? Sorge um dich selbst – und was noch? Von wo oder wem, und woher kommst du dann? Was und wer ist dein „außerhalb“? Wie steht es um deine Motive zum Handeln, deine Denkmuster, deine Sprache, deine Wertungen. Welche z.B. drei Muster, Wertungen, Impulse, Bilder findest du in dir, wenn du zu dir kommst? Was dröhnt eher von außen auf dich ein? Und: Kannst du für eine kurze Zeit die Tür nach „draußen schließen?“ Ich glaube, dass bei diesem Besuch und dem Blick nach außen auch die Gottes- und die Nächstenliebe ihren Platz hat. Beide konkretisieren sich in diesem Hin und Her von außen nach innen und zurück.

Und der zweite Aspekt: bei diesem Besuch kommst du zu dir. Um von hinten zu beginnen: Ich glaube, dass bei diesem Besuch und dem Blick nach innen die Selbstliebe ihren Platz hat. Sie konkretisiert sich in der Einkehr und im liebevollen Aushalten bei dir selbst. Hier geht es auch um Werte, Ziele, Weisen des miteinander Redens und übereinander Denkens, sinnvolle Tätigkeiten und Handlungen. Im Idealfall werden nicht nur du, wenn du bei dir zu Besuch bist, sondern auch andere, die bei dir zu Besuch sind und dein Leben teilen und stützen, eben dich sehen und kein Abbild deiner selbst.

Um auf den Anfang zurückzukommen: Da ist jetzt der Unterschied zwischen „Koma“ und „Besuch bei dir selbst“. Komakann so etwas sein wie eine Aufgabe i.S.v sein lassen deiner selbst, weil du dem Leben nicht mehr gewachsen bist. Der Besuch bei dir selbst kann so etwas sein wie eine Aufgabe i.S.v. Anpackens deines Lebens auf ein Mehr an Leben hin.

Koche doch schon mal den Kaffee oder schau nach einem guten Wein für deinen Besuch bei dir selbst. Damit du zu dir kommst und zu dir kommst. Ich weiß, du kannst das! Und es lohnt – nicht nur wegen des Kaffees oder des Weines.

So viel für heute und für die Woche.

Köln, 17.10.2025
Harald Klein

[1] vgl.[online] https://www.bistum-speyer.de/seelsorge/sterben-und-trauern/lebenszeichen-impulse-fuer-trauernde/heute-besuche-ich-mich5/[17.10.2025] – auf der Internet-Seite ist die Ansprache in der „Sie“-Form vorgegeben, um des Sprachduktus meiner Seite habe ich sie zur „Du“-Form verändert. H.K.