Lessings „garstiger Graben“: Wort, Wirkung, Wahrheit der Auferstehung
Immerhin, es war 1777, also beinahe vor 250 Jahren, da verfasste Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) den Text„Über den Beweis des Geistes und der Kraft“.[1] Er reagierte damit auf eine Schrift des Theologen Johann Daniel Schumann (1714-1787), die den Titel „Über die Evidenz der Beweise für die christliche Religion“ trug. Lessing greift weder das Christentum an noch zweifelt er an dessen Wert. Er wendet sich aber gegen Schumanns Behauptung, man müsse dem Christentum Glauben schenken, weil in der Bibel von so vielen Wundern und erfüllten Prophezeiungen berichtet werde, was nur dem Einfluss Gottes zu verdanken sei.
Mehr noch: Er, Lessing, selbst habe nie ein solches Wunder gesehen oder erlebt, dass eine Prophezeiung wahr werde und könne sie deswegen auch nicht als Beweise ansehen. Sie seien genauso (un-) zuverlässig wie jede andere beliebig behauptete historische Wahrheit. Dazu kommt – ein häufig zitiertes Wort Lessings –, dass ein garstiger, breiter Grabenuns zeitlich von den weit zurückliegenden vergangenen Ereignissen trenne. Und er schließt aufgrund dieses „Grabens“, dass dieser historisch zeitliche Abstand und die fehlende Beweiskraft schriftlicher Überlieferung biblischer Berichte respektiert werden müssen. M.a.W.: Auf welche Weise auch immer protokollierte Beschreibungen von längst zurückliegenden Ereignissen sind kein Beweis dafür, dass diese Darstellungen der Wahrheit entsprechen.
Hier wird deutlich, was ich in meinem österlichen Dreischritt in der Apostelgeschichte auszudrücken und zu beschreiben versuche: Es genügt nicht und ist kein Wahrheitsbeweis, weil Ostern ist, sich mit „Der Herr ist auferstanden!“ – „Er ist wahrhaftig auferstanden!“ zu begrüßen. Es genügt nicht, sich im Kerzenschein beim Exsultet einen Schauer auf den Rücken zu wünschen oder Osterlieder mit unzähligen Halleluja-Rufen nach der tristen Bußzeit zu singen. Wenn das Wort von der Auferstehung keine andere Wirkung zeigt als das, darf dessen Wahrheit zu Recht angezweifelt werden. In Lessings Geist: Die Tatsache, dass wir liturgisch Ostern feiern, sagt nichts über die Wahrheit der Auferstehung Jesu oder unsere ausstehende Auferstehung aus! Lessings „zeitlicher Abstand“, der „garstige Graben“ klafft schon auf in der ersten Generation derer, die keine Zeugen oder „Mitläufer“ Jesu mehr gewesen sind.
Muss man Gott mehr gehorchen als den Menschen?
Zum Lesungstext aus der Apostelgeschichte: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ (Apg 5,29) – für mich ist das der Kernsatz der heutigen Lesung. Die Apostel werden dem Hohen Rat und dem Hohepriester vorgeführt, weil sie sich deren Verbot nicht gebeugt haben, Jerusalem mit der Lehre Jesu zu erfüllen. Sie, die Apostel, beabsichtigten, so der Hohepriester, das Blut dieses Menschen, das Blut Jesu, über Jerusalem zu bringen. Petrus argumentiert clever, er sagt dem Hohepriester, man müsse – dieses Gebot spüre er in sich – Gott mehr gehorchen als den Menschen – selbst, wenn es sich um den Hohepriester handelt, in unserm gegenwärtigen Fall vielleicht um den geweihten Priester, den Bischof, den Kardinal, ja selbst den Papst.
Ich schlage dir vor, mal über den „garstigen Graben“ zu springen und vom „Heute“ her zu denken. In der Art und Weise, mit Bibeltexten umzugehen, verwendet Eugen Drewermann für diesen Brückenschlag den Begriff des „Gleichzeitigwerdens“, auf den er nach seiner Suche nach einer weltnahen und zeitgenössischen Art der Exegese bei Søren Kierkegaard gestoßen ist.[2]
Um es auf einen einfachen Punkt zu bringen: Die in Worten überlieferten Wunder- und Heilungsgeschichten oder die Prophezeiungen und deren Erfüllung in der Bibel auf ihre damalige Wahrheit hin bedürfen der Untersuchung. Ausgangspunkt dafür sind ihre überlieferten Wirkungen. Der Wendepunkt Drewermanns liegt darin, im Jetzt, also nicht historisch, d.h. rückwärtsgewandt über den garstigen Graben hinweg, geschichtliche Wahrheiten zu behaupten oder zu postulieren. Nicht, was damals vielleicht war, sondern was heute sein könnte oder ist, das ist ihm wichtig. Ihm geht es um die Wahrheit der Geschichten im Heute, die sich auf psychische Wahrheiten der Menschen beziehen – denn die waren zur Zeit Jesu die gleichen wie heute. Drewermann weist darauf hin, religiösen Texten eine „tiefenspychologische Hermeneutik“ zugrunde zu legen. Die Wahrheit der Geschichten erweist sich dann und nur dann, wenn die Wirkung, die die Worte der Geschichte haben oder aufzeigen, von dir, von mir als „Gleichzeitiger“ erlebt wird.
Geistlicher Missbrauch …
Wenn du dir diese kleine Episode „Petrus vor dem Hohen Rat“ vor Augen stellst und sie dir ansiehst, dich in sie hineinhörst, wirst du merken, wie groß der Unterschied ist, ob z.B. der Hohepriester gegen Petrus argumentiert mit den Worten „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ – oder ob Petrus dieses Wort gegen das Urteil des Hohepriesters stellt.
Ersteres käme dem nahe, was heute geistlicher Missbrauch genannt wird. Mit dem Verweis auf Gott, auf das Wort Gottes in der Schrift, auf beliebige Zusammenstellungen werden Leitsätze zum Handeln und zum Unterlassen formuliert und von den institutionalisierten Vertretern der jeweiligen Glaubensgemeinschaft gegen die (der Autorität untergeordneten) Mitglieder dieser Gemeinschaft oder gegen andere Mitglieder anderer Gemeinschaften eingesetzt. In den Worten des Hohepriesters: „Wir haben euch streng verboten, in diesem Namen zu lehren; und siehe, ihr habt Jerusalem mit eurer Lehre erfüllt; ihr wollt das Blut dieses Menschen über uns bringen.“ Die kleine Rede strotzt viel mehr von „Gegeneinander“ als von einem „Miteinander“. Letztlich ist es dieses Verbot, nicht inhaltlich, allein schon strukturell, durch das Jesus erneut ans Kreuz geschlagen wird. Da erheben sich Menschen im Namen Gottes über andere Menschen – wie gesagt: du darfst von geistlichem Missbrauch reden.
… oder Ernstnehmen der Menschwerdung?
„Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ – der Satz klingt ganz anders, wenn Petrus ihn dem Hohepriester entgegenhält. Hier sind in der Tat andere Religionen und Haltungen brückenbauend. In dieser Sprechweise geht es nicht darum, den Gott des Petrus dem Gott des Hohepriesters gegenüberzustellen. Ganz anders: es geht nicht mehr um Gott, es geht um den Menschen! Es geht um einen respektvollen und dankbaren Umgang miteinander, wie ihn der indische Gruß „Namaste“ mit Handhaltung und kleiner Verneigung ausdrückt. Es geht um den menschgewordenen Gott, um den Geist dieses Gottes, der Wohnung genommen hat in Petrus, in dir, in mir.
Es geht um eine Art „Gehorsam“: Diesem „Gott in mir“, diesen Impulsen zum Handeln, Reden, Unterlassen, muss ich mehr gehorchen als den Anforderungen der Menschen um mich herum und als den Anforderungen des Menschen, der ich bin, in den Teilen, die „Gottes Geist“ – vielleicht auch die „Ethik“, die ich als richtig erkannt habe – noch nicht berührt, erhellt, erwärmt hat. Du merkst, wie hier das von Drewermann gesuchte Gleichzeitigwerden Wirklichkeit wird?!
Mehr noch: Wenn du den Gedanken der Menschwerdung Gottes, sein Innewohnen in allen Menschen wirklich ernst nimmst, dann wird klar, was der Dalai Lama mit seiner Forderung von 2015 meinte: „Ethik ist wichtiger als Religion.“[3]
Ich möchte das „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ im Munde des Petrus gerne in diesem Sinne verstehen. Es geht nicht darum, sich über „deinen Gott“ und ‚“meinen Gott“ zu streiten, oder darum, was „dein Gott“ anders meint und sagt als „mein Gott“. Es geht darum, dem „Gott in mir“ Gehör zu schenken und dann nach einer verbindenden säkularen Ethik zu suchen, die eben verhindert, dass „das Blut dieses Menschen (erneut) über uns gebracht wird. Gehör und Gespräch – in einem offenen und gewaltfreien Dialog könnten der Hohepriester und Petrus über eine gemeinsam getragene Lösung suchen. Dazu hätten beide Macht und Vollmacht – wenn sie sie nur gebrauchen wollten. Hier würde sich die Wahrheit an der Wirkung des Wortes von der Auferstehung bestätigen! Und überall dort, wo in diesem Geiste, in dieser Wahrheit gehandelt und verhandelt wird.
„Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ – In diesem Dualismus zwischen „Gott“ und Mensch“ geht es um das Ringen, wie ich Gott und Mensch sehe, wie du Gott und Mensch siehst. Aus dieser Sichtweise ergibt sich dann das Handeln. Der Dala Lama schreibt: „Es gibt zwei Sichtweisen auf die menschliche Natur. Die eine meint, der Mensch sei von Natur aus gewalttätig, rücksichtslos und aggressiv. Die andere glaubt, wir neigen von Natur zu Güte, Harmonie und einem friedlichen Leben. Diese zweite Sichtweise entspricht meiner eigenen. Deshalb halte ich Ethik nicht für die Summe von Geboten und Verboten, die es zu befolgen gilt, sondern für ein natürliches, inneres Angebot, das uns zu Glück und Zufriedenheit mit uns selbst und mit anderen führen kann. Mich persönlich treibt der einfache Wunsch, zum größeren Wohl der Menschheit und aller Lebewesen beizutragen.“[4]
Im Vorwort – es soll hier das Schlusswort sein – des kleinen Büchleins des Dalal Lama schreibt Franz Alt: „Erschüttert über die islamistischen Terrorangriffe auf die Redaktion der Satire-Zeitschrift ‚Charlie Hebdo‘ und auf einen jüdischen Supermarkt in Paris sagte der Dalai Lama im Januar 2015: „‚Ich denke an manchen Tagen, es wäre besser, wenn wir gar keine Religionen mehr hätten. Alle Religionen und alle Heiligen Schriften bergen ein Gewaltpotential in sich. Deshalb brauchen wir eine säkulare Ethik jenseits aller Religionen. In der Schule ist Ethik-Unterricht wichtiger als Religionsunterricht. Warum? Weil zum Überleben der Menschheit das Bewusstsein des Gemeinsamen wichtiger ist als das ständige Hervorheben des Trennenden.‘“[5]
Der letzte Satz nochmal: Weil zum Überleben der Menschheit das Bewusstsein des Gemeinsamen wichtiger ist als das ständige Hervorheben des Trennenden.
So viel für heute – und für die Woche.
Köln, 03.05.2025
Harald Klein
[1] vgl. [online| https://de.wikipedia.org/wiki/Über_den_Beweis_des_Geistes_und_der_Kraft [02.05.2025] – in wenigen Zeilen wird hier aufgezeigt, was zum Hauptmotiv einer historisch-kritischen Methode der Auslegung der sog. Heiligen Schrift geführt hat.
[2] vgl. Tropper, Veronika: Auseinandersetzung mit der Exegese nach Drewermann am Beispiel der ‚Schweineperikope‘ Mk 5,1-20, in: Protokolle zur Bibel, Jg. 20(2011), Heft 2, Klosterneuburg, 125-142, hier 126f: „Drewermann selbst führt drei Erfahrungen an, die ihn auf den Weg zur Psychoanalyse geführt haben: 1. Die ihn schwer belastende Wahrnehmung der „psychologisch verheerende(n) Moralisierung des Christlichen“. Seine aus dem Studium mitgebrachte Moraltheologie erwies sich im Umgang mit den ihm zur Seelsorge anvertrauten Menschen als unzureichend; 2. erkannte er, dass die im Studium erlernte Art der Bibelauslegung den pastoralen Anforderungen nicht genügen konnte; die historisch-kritischen Erkenntnisse konnten nur die intellektuellen, nicht aber die existentiellen Bedürfnisse seiner Gemeindemitglieder stillen; 3. Diskussionen mit kritischen Zeitgenossen, die nicht mehr zum voraufklärerischen Bibel- und v.a. Wunderglauben zurück konnten, so dass er sich genötigt sah, ‚den gesamten Begriff von Wirklichkeit und Erfahrung spezifisch zu ändern‘. Diese drei Probleme, der Moralismus der traditionellen katholischen Theologie, die „Verstandeseinseitigkeit“ der historisch-kritischen Bibelauslegung und das aufgeklärte Wirklichkeitsverständnis, sind die prägenden Elemente nicht nur für Drewermanns Weg zur Tiefenpsychologie, sondern für sein ganzes weiteres Oeuvre.“ – Tropper weist in einer Fußnote auf S. 126 darauf hin, dass „diese Erfahrungen […] beschrieben [werden] in Eugen Drewermann, Im Ministerium der Wahrheit, in: Peter Eicher (Hg.), Der Klerikerstreit. Die Auseinandersetzung um Eugen Drewermann, München
1990, 325–357: 335–337.
[3] vgl. Dalai Lama (2015): Ethik ist wichtiger als Religion. Der Appell des Dalai Lama an die Welt. Mit Franz Alt, Wals bei Salzburg.
[4] a.a.O., 21.
[5] a.a.O., 7.