30. Sonntag im Jahreskreis – An Sehen gewinnen und Ansehen gewinnen

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Zwei „Typen“ im Tempel

Im Evangelium erzählt Jesus „einigen, die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt sind und die anderen verachten“ (Lk 189), das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner, die – sicher eher nebeneinander als miteinander – zum Tempel hinaufgehen, um dort zu beten.

Es sind keine Einzelschicksale oder innere Bewegungen einzelner, die Jesus hier erzählt, „der“ Pharisäer und „der“ Zöllner stehen für Menschengruppen, stehen für „Typen“, für Menschen mit Haltungen, die bzw. für Auftreten, die im Raum der Kirche, aber auch im Raum der Gesellschaft und des Privaten gut erkennbar und schlimm erfahrbar sind. Wenn du die gerade mal fünf Verse liest und betrachtest, kannst du folgendes entdecken:

Der „Pharisäer“

Der Pharisäer „stellt sich hin“. Du kannst ahnen, wie er sich aufrichtet, die Brust geschwellt. Ich stelle ihn mir im Tempel nahe vor dem Allerheiligsten vor, so, dass er nur dieses im Blick hat, und nichts und niemand neben oder hinter ihm. Das Allerheiligste allein scheint seine „Ansichtssache“ zu sein – und wie es scheint, ist die Blickrichtung auch klar: Gott möge doch ihn anschauen!

Das sagt sein „Gebet“: Jesus gibt es wieder mit „Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den zehnten Teil meines ganzen Einkommens.“ Du merkst, dass er hier kaum zu Gott, sondern eher von oder zu sich selbst spricht. Drei „fromme Leistungen“ ruft er sich (!) in Erinnerung und Gott (!) zu: nicht rauben, nicht betrügen, nicht ehebrechen, dann zweimal Fasten in der Woche, und schließlich die Gabe des Zehnten seines ganzen Einkommens. Der himmlische Vater muss doch wohl erkennen, was er für ein toller Hecht in Gottes Teich ist!

Der „Zöllner“

Ganz anders der Zöllner. Er „bleibt ganz hinten stehen“. Von hier aus könnte er das Ganze des Innenraums des Tempels übersehen, könnte in den Blick nehmen, wer und was alles da ist. Zwischen dem Allerheiligsten und ihm ist Raum für die Menschen, die mit ihm im Tempel sind. Seine „Ansichtssache“ könnten die Menschen und das bzw. Allerheiligste sein. Diesen Raum und die Menschen und die Gegenstände darin könnte er wahrnehmen, wenn er denn seine Augen zum Himmel, nach oben oder wenigstens in die Gerade erheben würde. Sein Gebet ist „leibhaft“: Er bleibt gesenkten Hauptes stehen, schlägt sich an die Brust und bittet Gott: „Gott, sei mir Sünder gnädig.“ Mehr nicht!

» Gerade feinfühlige und empathische Menschen begegnen im Laufe ihres Lebens Personen, für die Empathie ein Fremdwort ist. Sie halten sich anscheinend für wichtiger und besser als alle anderen und gehen über Leichen, um das zu bekommen, was sie wollen. Oftmals sind diese Menschen nicht nur unangenehm, sondern haben eine Persönlichkeitsstörung: Sie sind Narzissten. «
Boss, Sarah (o.J.): Fünf Schwächen von Narzissten [online] https://balancerehabclinic.de/5-schwaechen-von-narzissten/#fazit [24.10.2025]

Der „Pharisäer“ – ein Narzisst vor Gott (und den Menschen)

Wie eingangs schon gesagt: Jesus spricht zu einigen, die von der eigenen Gerechtigkeit überzeugt sind und die andere verachten. Atme doch mal durch und spüre nach, ob du solche Menschen in deinem Umfeld oder in der Weite der Öffentlichkeit kennst.

Der „Pharisäer“ verkörpert für mich das Bild eines Narzissten, und zwar vor Gott, vor den Menschen und vor sich selbst. Du kannst einen Narzissten an fünf Schwächen erkennen: (1) Er benötigt ständig Aufmerksamkeit und ist süchtig nach Bewunderung; (2) er ist unfähig zur Selbstreflexion; (3) er verfügt über keinerlei Empathie; (4) er kann nicht zuhören; (5) er ist von Gier getrieben.[1] Als Beleg mag dir der Ort genügen, an den sich der Pharisäer stellt – sicher vorn und mittig, oder? So nah wie möglich am Allerheiligsten. Nicht nur, dass er sich bewundert für seine religiösen „Werke“ – sein Gebet zielt doch darauf, dass Gott ihn auch bewundere. Gott wird nie einen Besseren als ihn finden, weil ja alle außer ihm Idioten sind. Und Gott möge ihm nichts abschlagen, wo, er der Pharisäer, doch bereit ist, alles für ihn zu tun!

Klerikal gewendet, könnte das so heißen: „An Demut macht mir keiner was vor!“ Oder: „Ich erfülle nur, was mir die Tradition und die Schrift aufträgt“ (und für beides steht ja die Kirche, vom Leben und von den Menschen ist da keine Rede).

» Selbstlosigkeit und Bescheidenheit betrachten die meisten Menschen im Gegensatz zu Narzissmus grundsätzlich als Tugenden. Echoisten leben diese Werte auch, allerdings in einem ungesunden Maße: Sie halten es für verwerflich, sich für etwas Besonderes zu halten — und sie leiden darunter. «
Gaulhiac, Natalie (2019): "Echoisten" sind das Gegenteil von Narzissten - und das ist nicht unbedingt besser [online]https://www.businessinsider.de/karriere/arbeitsleben/echoisten-sind-das-gegenteil-von-narzissten-und-das-ist-nicht-unbedingt-besser-2019-2/ [24.10.2025]

Der „Zöllner“ – ein Echoist vor Gott (und den Menschen)

Der „Zöllner“ verkörpert für mich das Gegenbild des Narzissten, vor Gott, vor den Menschen, vor sich selbst. Echoisten sind Menschen, die geschätzte Tugenden wie Selbstlosigkeit und Bescheidenheit in einem Maße leben, das letztlich ungesund ist. Im Gegensatz zum Narzissten halten sie es verwerflich, sich für etwas Besonderes zu halten, und leiden darunter.

Nathalie Gaulhiac erklärt den eher unbekannten Begriff: „Der Begriff „Echoisten“ ist auf die Geschichte der Bergnymphe Echo aus der griechischen Mythologie zurückzuführen. Die Nymphe verliebte sich in den Hirten Narziss, der sie zurückwies. Echo zog sich daraufhin verletzt in die Berge zurück, wo ihr Körper nach und nach verschwand, bis schließlich nur noch ihre Stimme übrig blieb. Narziss hingegen wurde von der Göttin Nemesis für seine Überheblichkeit verflucht: In einer Quelle erblickte er sein Spiegelbild und verliebte sich in es. Er blieb so lange am Ufer, bis er starb und sich in eine schöne Blume verwandelte. [2]

Es ist kein Narzissmus-Defizit, was im Gleichnis beim Zöllner zu beobachten ist, sondern ein Selbstwert-Defizit. Es mag ja sein, dass die Worte des Zöllners, nämlich „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ bei Gott ein anderes Ansehen haben und anders erhört werden als die Prahlsucht des Pharisäers. Es mag auch sein, dass dies der Rechtfertigung vor Gott, der freiwilligen Gabe seiner Liebe, entgegenkommt. Aber kann das, kann dieses Bild die Erfüllung der Zusage Jesu sein, die er am Ede des Gleichnisses gibt: „Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden“? Möchtest du so dastehen wie der Zöllner – wissend, dass Gott dich so will? Dass diese Haltung dem Willen Gottes für dich entspricht?

» Alle Denkfallen haben in der kognitiven Verhaltenstherapie eine Gemeinsamkeit. In der Regel erfüllen sie nicht die Kriterien für angemessenes Denken. «
Gaulhiac, Natalie (2018): Menschen tappen oft in diese neun Denkfallen - so überwindet ihr sie [online]https://www.businessinsider.de/strategy/neun-denkfallen-die-euch-am-erfolg-hindern-2018-9/ [24.10.2025]

Ein gesundes Gespür für Selbstwert, Selbstachtung, Selbstvertrauen

Es geht um ein Selbstwert-Defizit, übrigens bei beiden, beim “Pharisäer“ wie beim „Zöllner“. Ein gutes Dastehen vor Dir selbst, vor anderen, vor Gott spielt sich nicht auf nur einem festen Standpunkt „vorn“ oder „hinten ab, ebensowenig wie zwischen „sich selbst erhöhen“ oder „sich selbst erniedrigen“. Und: Es hat mehr mit dem Denken und mit Denkfallen zu tun, aus dem heraus dann ein Handeln oder ein Auftreten, wenn nicht gar ein „Auftritt“, wird.[3]

Beiden, dem „Pharisäer“ (in dir) wie dem „Zöllner“ (in dir), gelten die Fragen, ob ihr Denken wirklich realistisch ist und ob es wirklich hilfreich ist. Es gilt, Denkfallen aufzudecken und abzuwehren, wie z.B. die Selbstabwertung und das Katastrophendenken, das übertriebene Verantwortungsdenken und das Denken in absoluten Forderungen und im „Muss-Modus“, das perfektionistische Denken und das Streben, von allen gemocht zu werden, das „Gedankenlesen“ i.S.v. ich weiß, was du meinst oder willst, das Denken in der Opferhaltung, die alle anderen und alles andere verantwortlich macht, und das Schönreden, das hilft, den Moment etwas einfacher zu machen und Dinge positiv zurecht zu interpretieren.

Der „Zöllner“ (in dir) kommt ins Handeln, wenn er den Blick hebt, einen Schritt nach vorn macht und die Welt wahrnimmt, wie sie ist, wenn er sich ansprechen lässt von dem, was ihm ansprechend erscheint, und von denen, die ihm ansprechend erscheinen. Und wenn er dann einen Schritt nach vorn wagt auf „Narziss“, den Zöllner, zu, ohne dessen Schwächen zu erliegen. Er darf und soll seinem Selbstwert, seiner Selbstachtung und seinem Selbstvertrauen vor sich, vor den anderen, vor Gott mehr Raum geben.

Der „Pharisäer“ (in dir) findet zum Selbstwert, zur Selbstachtung und zum Selbstvertrauen, wenn er den Blick senkt, einen Schritt zurück macht und sich selbst wahrnimmt, wie er ist, wenn er sich von dem ansprechen lässt und dem zuwendet, was ihm Aufmerksamkeit und Bewunderung verweigert, auch in der Selbstreflexion, wenn er so Empathie einübt und der Welt, den anderen, sich selbst zuzuhören vermag, wenn er seinen wirklichen Hunger wahrnimmt, nicht nur seine Gier.

Ich deute Jesu Schlusswort in diesem Gleichnis so, dass „sich selbst erhöhen“ genauso wie „sich selbst erniedrigen“ vor allem ein Verlassen des Platzes in die eine wie in die andere Richtung ist, die das Leben, das Universum, oder die Gott für dich vorgesehen hat. Es ist das Wahrnehmen und Gestalten dieses Platzes, der zum Leben in Fülle verheißt, von dem Jesus spricht. Und es ist klar, dass dieser „Platz“ mehr ist als nur ein Ort.

Nach diesem Platz ist mit „Wo“ genauso zu fragen wie mit „mit wem“ oder mit „was“ oder mit „wie lange“. Du kann Selbstwert, Selbstachtung und Selbstvertrauen im Moment und in der Gegenwart „haben“ und „besitzen“, aber nichts davon kannst du „halten“ und „bewahren“. Es sind Momentaufnahmen, die ein Bild ergeben, kein Bild, das du vorhalten kannst. Im Bild des Evangeliums: Du betrittst immer und immer wieder den Tempel deines Lebens und musst deinen Platz, deine Haltung, deine Worte und dein Hören finden.

Und jetzt: Schau dir doch mal dich und deine „Typen“ im „Tempel deines Lebens“ an.

So viel für heute und für diese Woche.

Köln, 24.10.2025
Harald Klein

[1] vgl. für die Darstellung des Narzissten [online] https://balancerehabclinic.de/5-schwaechen-von-narzissten/ [24.10.2025]

[2] vgl. für die Darstellung des Echoisten [online] https://www.businessinsider.de/karriere/arbeitsleben/echoisten-sind-das-gegenteil-von-narzissten-und-das-ist-nicht-unbedingt-besser-2019-2/ [24.10.2025]

[3] vgl. für das Folgende [online] https://www.businessinsider.de/strategy/neun-denkfallen-die-euch-am-erfolg-hindern-2018-9/ [24.10.2025]