30. Sonntag im Jahreskreis: „Lieber Bartimäus, was nährt Dich?“

  • Auf Links gedreht - Das Evangelium
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Leben auf einem fliegenden Teppich, oder: Leben mit Instabilität

Das Bild vom fliegenden Teppich, aus der Märchensammlung von 1001 Nacht bekannt, wurde in einer Online-Fortbildung als der „Boden, auf dem wir stehen“ vorgestellt. Dr. Martina Aßmann, Arbeitsmedizinerin, Psychotherapeutin und Lehrerin für MBSR/MBCT in Hamburg, machte deutlich, dass „Stabilität“ – der auf dem „Boden“ liegende und uns tragende Teppich – zum einen vorgegaukelt, zum anderen erhofft werde, dass es gleichzeitig aber kaum noch „festen Boden“ gäbe, da Beziehungen, Arbeit, Klima, Politik… – dass Vieles im Fluss, vielleicht sogar abgehoben, freischwebend oder ferngesteuert sei. Die Reaktion der Menschen sei eine Sehnsucht nach Stabilität. Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Drei Systeme gebe es, die evolutionär bedingt seien, um den Erfahrungen der Instabilität zu begegnen. Zum Angst-Angriff-System gehören die Emotionen der Angst, der Unsicherheit, der Wut, des Ärgers, des Ekels. Die Ausschüttung der Hormone Adrenalin und Cortisol bewirken kontrollierte und unkontrollierte Stressreaktionen. – Zum Neugier-Belohnung-System gehören die Emotionen der Freude, der Neugier, der Gier, der Begierde, des Neides, der Konkurrenz, die Entwicklung der Leistungsbereitschaft. Die Ausschüttung des Hormones Dopamin kann zur Falle werden, kann abhängig machen und ein „immer mehr“ initiieren. – Zum Beruhigungs-System gehören die Emotionen der Liebe, des Vertrauens, der Verbindung und der Zugehörigkeit. Die Ausschüttung des Hormons Oxytocin bewirkt ein Wohlgefühl und ein Aufgehobensein.

Eines der drei Systeme könntest Du kennen und könnte Dein am meisten übernommenes Reaktionssystem auf Erfahrung von Instabilität aller Art sein. Dennoch: Alle drei Systeme sind miteinander verbunden, wirken aufeinander ein. In der Fortbildung wurde das Bild der Assistentin in einer Zahnarztpraxis angeboten, die beruhigend die Hand auf die Schulter des Patienten legt, während der Zahnarzt seiner Arbeit nachgeht. Da spielen zwei der drei Systeme zusammen, die helfen, der Erfahrung der Instabilität zu begegnen.

» Man mag soviel verschütten in der Seele eines Menschen als man will; ein erster Glockenton der Freiheit wird sie rufen, so verstohlen und versteckt auch immer: die wahre Sprache unseres Wesen, mit der Gott uns bei Namen rief, als er uns schuf als Einzelwesen, als Personen, als Kostbarkeiten, die es nur ein einziges Mal gibt auf Erden. «
Drewermann, Eugen (5. Aufl. 1989): Das Markusevangelium. 1. Teil. Bilder von Erlösung, Freiburg, 179.

„Lieber Harald, was nährt Dich?“

Im Laufe unseres Abends wurde klar, dass jeder und jede von uns zu verschiedenen Mitteln und Wegen „greift“ (oft im wörtlichen Sinne), um den oft schwer zu ertragenden Situationen der Instabilität zu begegnen. Um diesem oft unbewussten Mechanismus etwas entgegensetzen zu können, schlug die Referentin eine Übung in der Dyade vor. Je zwei Teilnehmende kamen zusammen, wurden angehalten, die Kamera bewusst auszuschalten, um nur bei der eigenen Stimme und bei der des Partners, der Partnerin zu bleiben und sich für eine nicht vorgegebene Zeit gegenseitig zu fragen: „Lieber N.N., was nährt Dich?“ Ohne den Begriff „nähren“ weiter zu erläutern, wussten alle Teilnehmenden, was gemeint sei oder sein könnte: Das, was hilft, in der Instabilität zu bestehen.

Drei Dinge verblüfften mich: (1) Es gibt einen „Hauptpunkt“, der mich nährt, den ich auch zuerst nannte, und ich vermutete, dass es das dann auch gewesen sei. (2) Wie gut es tat, das Gegenüber nicht zu sehen oder von ihm gesehen zu werden; es fühlte sich an wie „Reduktion meiner Person“ auf einen Punkt, der gehört wird; (3) Je länger wir dieses Hin und Her vollzogen, um so mehr wuchs die Erfahrung, dass ich nicht lange nachdenken müsse, sondern dass die Antworte wie von außen auf mich zuflogen.

Wie so oft bleibt blieb und bleibt die Frage, ein wenig flippig gestellt: Wenn ich doch weiß, was mich wirklich nährt, warum gebe ich diesem Nähren so wenig Zeit und Raum, und warum begnüge ich mich dann mit Junk-Food? Oder positive gewendet, um ins Handeln zu kommen: Wie gebe ich dem, was mich nährt, mehr Raum und mehr Zeit?

» Wenn wir einmal merken, zu welcher Freiheit wir berufen sind, und wie wenig uns die Kräfte binden, die wir wie unsichtbare Stricke jeden Tag als Sklavenhypothek durch unser Leben schleppen, beginnen wir zugleich zu spüren, welch eine Kraft die Entscheidung für Christus zu vermitteln vermag. «
Drewermann, Eugen (5. Aufl. 1989): Das Markusevangelium. 1. Teil. Bilder von Erlösung, Freiburg, 170.

Und jetzt: Die Episode der Heilung des blinden Bartimäus

Lass uns die Episode im Evangelium, die vom blinden Bettler Bartimäus erzählt, in Deine, in unsere Lebenswirklichkeit holen. Ich setze mal die Worte, die den Übergang der damaligen Instabilität ins Heute, in Deine oder meine Instabilität markieren, kursiv. Bartimäus, ein blinder Bettler, sitzt am Stadtausgang von Jericho. Er schreit nach Erbarmen, er brülltum Hilfe. Und er erwartet sie von einem anderen, der vorübergeht, von Jesus. Man befiehlt ihm zu schweigen, aber er schreit nur noch lauter. Jesus hört ihn, handelt über die Köpfe der Menschen hinweg und lässt Bartimäus sagen: Hab nur Mut, steh auf, er ruft Dich. Bartimäus wirft seinen Mantel weg, springt auf und läuft auf Jesus zu. Und der fragt ihn: „Was willst Du, dass ich Dir tue?“ – „Rabbuni, ich möchte wieder sehen können.“ Jesus antwortet: „Geh! Dein Glaube hat Dich gerettet.“ Im gleichen Augenblick kann er sehen und er folgt Jesus auf seinem Weg nach.

Es liegt mir nicht, Bibelgeschichten mit etwas angelesenem Psychologie- oder Philosophiewissen in Verbindung zu bringen, weil es etwas Eklektizistisches hat, i.S.v. schau, wie schön das passt und wie die drei Systeme zum Umgang mit Instabilität hier passen, als habe der hier erzählte Jesus das Wissen der Psychologie schon gekannt und übernommen.

Es liegt mir vielmehr, die berichtete Situation des blinden Bettlers Bartimäus mit den Erfahrungen meines Erlebens von Instabilität zu vergleichen. Das will ich hier nicht tun, vielmehr nutze Du doch die Gelegenheit, die Erfahrungen DeinesErlebens von Instabilität in den Vergleich der Geschichte des Bartimäus zu bringen.

» Die Welt ist aus den Fugen, ja; und es sprichts nichts dafür, dass wir die Möglichkeit besäßen, sie zusammenzuflicken. Doch darauf kommt es letztlich nicht an. Das einzige, was wirklich zählt, besteht darin, an Jesu Seite sich selbst durchzuhalten. «
Drewermann, Eugen (2009): Das Lukasevangelium Bd.2: Bilder erinnerter Zukunft, Düsseldorf, 695.

Auf links gedreht – wenn ich da am Stadtrand säße…

Wenn ich den gestrigen Abend der Fortbildung mit dem Evangelium zusammennehme und mich in Rolle des blinden Bartimäus begebe – die Kamera war ja ausgeschaltet im Zoom-Reich – dann stelle ich mir Jesus vor wie meinen Partner in der Übung, als den, der fragt: „Lieber Harald, was nährt Dich?“ Oder weniger fromm: Ich stelle mir die Stimme des Geistes in mir vor, der mich fragt: „Lieber Harald, was nährt Dich?“ Der Ort wäre sicher eher der Stuhl, auf dem ich meditiere, nicht so sehr der Stadtrand. Der Ort könnte aber auch ein gutes Buch, die Kastanienallee am Decksteiner Weiher oder ein Moment in der Chorprobe sein. Geschweige vom gemeinsamen Austausch beim Wandern, bei Essen, bei einem Glas Wein.

Der Unterschied ist: Ich warte nicht auf die Frage eines anderen, auch nicht auf die Frage Jesu: „Was willst Du, dass ich Dir tue?“ Sondern ich warte und hoffe auf den Impuls, der mir hilft, mein Leben in den Situationen der Instabilität selbst in die Hand zu nehmen und bei aller Instabilität standhaft bleiben zu können, nicht umzufallen. Resilient sein nennt man das in der Psychologie. Und die Frage, die diese Resilienz ins Rollen bringen kann, ist: „Lieber Harald, was nährt Dich!“

Und dann wie Bartimäus den Mantel wegwerfen, all das, mit dem ich meine Angst vor Instabilität ummantele, um sie sowohl zu verdecken als auch , um ihr einen Halt zu anzubieten, der aber nur genauso stark ist wie ein fliegender Teppich. Weder der Mantel noch der Teppich sind wirklich tragend, wie sehr ich mich auch mühe.

„Lieber/Liebe N.N., was nährt Dich?“ – Ich wünsche Dir, dass Dir die richtigen Antworten mehr und mehr zufliegen, und ich wünsche Dir, dass Du Dich weder auf den „fliegenden Teppich“ noch in den „umhüllenden Mantel“ flüchtest, sondern dass Du selbst ins Handeln kommst, motiviert von dem, was sich Dir zeigt, was Dich nährt. Im Evangelium beschreibt der Evangelist Markus dieses Erkennen und Handeln mit den Worten: „Im gleichen Augenblick konnte er sehen und er folgte Jesus auf seinem Weg nach.“

Amen.

Köln, 22.10.2024
Harald Klein