Der Wechsel von der Sommer- zur Winterzeit
Wenn es nach dem EU-Parlament geht, haben wir in dieser Nacht zum vorletzten Mal die Uhren umgestellt; ab 2021 soll diese die Wirtschaft unterstützende Maßnahme nicht mehr stattfinden, da sie den erwünschten Erfolg doch nicht gebracht hat und – seien wir ehrlich – irgendwie ja auch anmaßend ist. Als ob es so einfach wäre, die Maßstäbe – hier: der Zeiteinteilung – einfach so umzustellen. Oder ist es so einfach? Gerade dann, wenn es der Mensch war und der Mensch ist, der Maßstäbe festlegt. Die Zahl der sieben Tage ist sehr biblisch begründet – es geht auch anders: in Folge der Französischen Revolution galt von 1792-1805 der Revolutionskalender mit der Einteilung von 12 Monaten zu 30 Tagen mit jeweils 3 Dekaden, also zehn Wochentagen, zusätzlich fünf bzw. in Schaltjahren sechs Ergänzungstagen. Jeder Tag hatte zehn Stunden, jede Stunde 100 Minuten. Und jetzt bitte merken: Um sich von der Kirche und ihrer biblisch grundgelegten Zeitrechnung zu entfernen, wurde der Kalender in Frankreich neu erfunden! So einfach ist es, die menschengemachten Maßstäbe einfach umzustellen.
Am Vorabend des Franziskusfestes hat Papst Franziskus seine Sozialenzyklika „Fratelli tutti“ über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft unterschrieben. Sie stellt so etwas wie den Versuch einer Zeitumstellung in der Kirche dar. Und drei Zitate aus den beiden Lesungen und dem Evangelium können dies illustrieren.
Ein Fremder auf dem Weg
Das zweite Kapitel der Enzyklika ist überschrieben mit „Ein Fremder auf dem Weg“. Papst Franziskus stellt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter vor. Im Buch Exodus spricht der Herr zu Israel: „Einen Fremden sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid im Land Ägypten Fremde gewesen.“ In der gesamten Enzyklika des Papstes gibt es jetzt einen Dreischritt des Dialoges, den er sich in einer neuen Zeit der Kirche wünscht: Es geht immer um den Dialog mit sich selbst – in der konkreten Begegnung – in der Verständigung der Völker, Nationen und Staaten.
Aus der Winterzeit in die Sommerzeit kommen Sie, wenn Sie das Ihnen Fremde, das Dunkle, den Schatten in Ihnen selbst annehmen, mit ihm in Dialog treten, ihn als Seite Ihrer selbst annehmen als mit Gewalt versuchen, ihn abzuschneiden, ihn loszuwerden. – Der Dialog mit dem anderen kann nur dann gewinnbringend und wirklich zielführend sein, wenn Sie das Fremde des anderen annehmen, als Möglichkeit, über das Bisherige, das Eingegrenzte hinauszuwachsen, weniger als Bedrohung denn als Bereicherung. Und auch im Gespräch der Staaten gilt dieser Grundsatz: das suchen, was eint, und auch das annehmen, was unterscheidet – denn was unterscheidet, muss noch lange nicht trennen! Für alle drei Dialoge möge der letzte Satz gelten, den der Herr spricht: „Wenn er, der Fremde, wenn es, das Fremde, zu mir schreit, höre ich es, denn ich habe Mitleid.“ Sie ahnen den barmherzigen Samariter, oder?
„Nicht mit mir, und nicht mit Ihnen!“
Nehmen Sie den ersten Satz der zweiten Lesung, den Vers aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Thessalonich: „Schwestern und Brüder, ihr wisst, wie wir bei euch aufgetreten sind, um Euch zu gewinnen!“ Wie klingt das für Sie? Stellen Sie sich vor, Ihr Pastor, Ihre Gemeindereferentin, die Katechetin oder der Katechet Ihrer Erstkommunionkinder würde Sie so ansprechen: „Sie wissen, wie wir bei Euch aufgetreten sind, um Euch zu gewinnen.“ Da möchte doch schützend die Hände vor sich halten und sagen: „Nicht mit mir!“ oder „Nicht mit Innen!“ Ein Klassiker als Beispiel aus dem Leben, ich habe es von René Borbonus, einem Rhetoriklehrer, den ich seit Jugendzeiten kenne. Stellen Sie sich vor, Sie gehen zur Sparkasse, erledigen Ihre Geldgeschäfte, da kommt ein Kundenberater auf Sie zu uns sagt: „Herr Müller, ich habe gerade gesehen, Ihre Tochter wird im kommenden Jahr eingeschult. Sie wollen doch sicher, dass Ihre Tochter später mal eine gute Universität besuchen kann.“ – Wie reagieren Sie? Um den Kundenberater abzuwimmeln, müssten Sie „Nein“ sagen, aber wie stehen Sie dann da? Und wenn Sie „Ja“ sagen, haben Sie sofort ein Verkaufsgespräch an der Backe. Die einzige Möglichkeit, aus der Situation herauszukommen ist zu sagen: „Ja, das will ich, aber ich will nicht, dass Sie mir dabei helfen!“ Anders ausgedrückt. „Nicht mit mir, und nicht mit Ihnen!“ – „Schwestern und Brüder, ihr wisst, wie wir bei euch aufgetreten sind, um Euch zu gewinnen!“ – „Nicht mit mir, und nicht mit Ihnen!“
Aus der Winterzeit in die Sommerzeit kommen Sie, kommen wir, kommt die Kirche, wenn sie aufhört aufzutreten mit den großen Wahrheiten und Versicherungen für das Leben und sogar für das ewige Leben verkaufen zu wollen, zum Preis der Anbetung und oft genug der Verneinung alles Lebendigen im Menschen. Im Gleichnis des Papstes blieben der vorbeigehende Priester und der vorbeigehende Levit in der Winterzeit, erst der Samariter, der sich des Fremden annimmt, stellt die Uhr eine Stunde vor: Sommerzeit. Eines der stärksten Zitate aus der Enzyklika des Papstes lautet: „Paradoxerweise können diejenigen, die sich für ungläubig halten, den Willen Gottes manchmal besser erfüllen als die Glaubenden“ (FT 74). Es ist ja nicht so, dass die Kirche den Heiligen Geist hat – vielmehr hat der Heilige Geist die Kirche, auch die Kirche! Das ist Sommerzeit!
Die Gebote einfach mal umdrehen
Und dann das Evangelium und die Frage des Gesetzeslehrers: „Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?“ Sie haben die Antwort Jesu vielleicht nicht mehr genau im Ohr, aber Sie kennen sie: „Du sollst den Herrn, Deinen Gott, lieben, mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit Deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“
Das ist Version von Matthäus, bei Lukas geht die Frage ein wenig anders. Da fragt der Pharisäer nach dieser Antwort: „Und wer ist mein Nächster?“ Jetzt erzählt Jesus ihm das Gleichnis vom Samariter, und am Ende fragt er ihn: „Wer von diesen Dreien meinst Du, ist dem der Nächste geworden, der von den Räubern überfallen wurde?“ Der Gesetzeslehrer antwortete: „Der barmherzig an ihm gehandelt hat.“ Da sagte Jesus zu ihm: „Dann geh und handle Du genauso!“
Ob der Pharisäer mit dieser Antwort einverstanden ist? Seine Frage war doch: „Und wer ist mein Nächster?“ So fragen kann man nur in der Winterzeit. Die Antwort Jesu beantwortet die Frage des Pharisäers nicht, er schickt ihn weg mit einer ganz anderen Frage. Ein zweites Zitat aus der Enzyklika, das mich fasziniert ist: „Jesus ruft uns nicht auf, danach zu fragen, wer die sind, die uns nahe sind, sondern uns selbst zu nähern, selbst zum Nächsten zu werden“ (FT 80). Das ist Sommerzeit – mich immer wieder in der Begegnung mit mir selbst, mit dem anderen, mit kleinen und großen Entscheidungen zu fragen, wie ich mir selbst, wie ich Dir und Euch, wie ich in den zu treffenden Entscheidungen anderen Nächster sein kann. Da wird die Reihenfolge der Gebote irgendwie einfach und dem Legen gemäß umgedreht: Erst Nächster sein, und dann, und so Gott loben.
Sommerzeit braucht Handarbeit!
Ich komme zurück auf den Anfang. Wir haben Zeitumstellung. Der Zeiger wird eine Stunde vorgestellt, bei den Funkuhren macht er das ganz von selbst, fertig! Vielleicht merken wir es an Hungergefühlen, an Aufwach- und Schlafengehenszeiten, am wieder hellen Morgen und früher Dunkelheit am Abend. Ehrlich gesagt sind das Peanuts! Zeitumstellung in der Kirche: Ob Pastorale Zukunftswege oder Synodale Wege Zeitumstellungen von der Winter- in eine Sommerzeit der Kirche leisten können, ich glaube es nicht.
Nicht die Frage nach den Wahrheiten, sondern die Frage nach dem Geist, der ins Handeln ruft, kann das leisten, paradoxerweise können das die, die sich für ungläubig halten, oft besser erfüllen als die Glaubenden. Nicht die Frage, wer denn mein oder unser Nächster sei, sondern deren Umkehren, also wem ich hier, heute, jetzt Nächster sein darf, bringt die Kirche aus der Winter- in die Sommerzeit. Und ein letztes Zitat aus der Enzyklika mag den Abschluss machen. Der Papst schreibt über die Geschwisterlichkeit zwischen mit und meinem Schatten, zwischen uns in der Begegnung, zwischen den Völkern, Kulturen Nationen und Staaten. Er schreibt über die soziale Freundschaft, die die Unterschiede zwischen Arm und Reich, Schwarz und Weiß Frau und Mann – man könnte die Liste fortsetzen – im Dienst der Geschwisterlichkeit überwinden will. Und dann kommt der für mich so wunderschöne Satz – ich höre ihn auf dem Hintergrund des Pastoralen Zukunftsweges ebenso wie auf dem Hintergrund des Synodalen Weges: „Der soziale Frieden erfordert harte Arbeit, Handarbeit!“ (FT 217) Der barmherzige Samariter hat keinen Beschluss über Sicherungsmaßnahmen auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho geschrieben, er hat angepackt. Der soziale Frieden erfordert harte Arbeit, Handarbeit!
Amen.
Köln 24.10.2020
Harald Klein