Eine freche Frage
Es lohnt, sich bildlich auszumalen („Die Bühne bereiten“ heißt das bei Ignatius), wie ein Schriftgelehrter zu Jesus hingeht, um ihm eine Frage zu stellen. Es lohnt, sich vorzustellen, ob er neugierig ist, ob er Bestätigung sucht, ob er Anklagepunkte sammeln will – was mag es sein, das ihn motiviert? Ist es ein alter, ein junger Mann, geht er allein, ist er geschickt von anderen? Und wo trifft er Jesus an? Im Gasthaus, in der Herberge, auf dem Weg? Ruht Jesus, geht er, ist er beim Essen, vielleicht mit anderen? Malen Sie sich diese Szene aus, so bunt, so genau, wie Sie es können.
Und dann hören Sie die Frage des Schriftgelehrten – von einem vorangehenden Gruß, einem Smalltalk über Weg, Wetter, Wunder ist keine Rede. Hören Sie auf den Ton des Schriftgelehrten, schauen Sie ihm ins Gesicht, wenn er Jesus die eine Frage stellt: „Welches Gebot ist das erste von allen?“
Das soll für die „Anschauung“ genügen, aber die Spitze des Evangeliums muss noch genannt sein. Jesus gibt als gläubiger Jude die Antwort, die die „Community“, die jüdische Glaubensgemeinschaft teilt: das dreifache Gebot der Liebe Gott, dem Menschen und sich selbst gegenüber. Und jetzt das „Schmankerl“ dieses Evangeliums: Der Schriftgelehrte lobt Jesus, er habe sehr gut und ganz richtig geantwortet. Na, da wird sich Jesus aber freuen, fehlt nur noch, dass er ein Fleißkärtchen vom Schriftgelehrten bekommt. Das Verständnis aber, das der Schriftgelehrte an den Tag legt, wird umgekehrt von Jesus belohnt mit dem Hinweis, der Schriftgelehrte sei nicht fern vom Reich Gottes.
Nachvollziehen kann ich allerdings nicht, warum das Evangelium mit der Feststellung endet, keine wagte sich mehr, Jesus eine Frage zu stellen.
Eine fiktive Rückfrage
Ja, und jetzt das Ganze mal umgedreht. Mit der gleichen Fantasie und den geistlichen Buntstiften malen Sie sich doch mal aus, Jesus käme auf Sie zu, ja, genau auf Sie – und alle Impulsfragen oben gelten hier auch: sein Aussehen und der Klang seiner Stimme, seine von Ihnen vermutete Motivation, das Gespräch mit Ihnen zu suchen? Wo trifft er Sie an, beim Spaziergang? Auf der Couch nach der Tagesschau? Bei Zwiebelkuchen und einem Glas Wein im Kreis der Freundinnen und Freunde? Und sind Sie in der Begegnung (nicht: wegen der Begegnung) eher zornig, eher traurig, eher abgelenkt oder gegenwärtig? Nutzen Sie Ihre Fantasie voll aus, wenn Sie sich ein Bild dieser Begegnung machen, und hören Sie gut auf den Klang der Stimme Jesu, wenn er Sie fragt – so, wie er mich fragt: „Harald, welches Gebot ist (Dir) das erste von allen?“
Das (An-) Gebot eines erfüllten Lebens
Wie mag es Ihnen gehen? Mir kommt jedenfalls als erstes kein biblisches Gebot in den Sinn. Und alle akademische, aber auch spirituelle Erziehung oder „Formation“ diente mir doch dazu, nichts, was „von außen“ kommt, als „Erstes“ zu nehmen, ist doch der Ruf in die Individualität oder die „Singularität“ (Andreas Reckwitz) und ist doch das Erleben aller postmodernen Entwicklungen so, dass das „erste Gebot“ kein Gebot „für mich“ und „auf mich hin“, sondern ein Gebot „aus mir heraus“ sein will. Das mag in aller Kürze genügen.
Ein Begriff, der mich in der vergangenen Woche sehr beschäftigt hat, war der des „erfüllten Lebens“. Der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun hat ein kleines Büchlein mit diesem Titel geschrieben: „Erfülltes Leben. Ein kleines Modell für eine große Idee“ (München, 2021). Hier leihe ich mir meine Antwort aus: „Mein erstes Gebot ist: Lebe so, dass Dein Leben ein erfülltes Leben ist“.
Kleiner Exkurs: Sofort schlägt der christlich-kirchlich-moralische Zeigefinger unbarmherzig zu: „Und was ist mit den anderen?“ Und ich antworte: „Du hast mich nach dem Gebot gefragt, das mir das erste von allen ist!“ Wohlgemerkt: der christlich-kirchlich-moralische Zeigefinger fragt so, nicht Jesus, das will ich mir nicht vorstellen!
Weiter im Text: Im Evangelium deutet sowohl Jesus als auch der Schriftgelehrte die Antwort nach dem wichtigsten Gebot aus. Diese Ausdeutung soll auch hier geschehen. M.a.W.: Was heißt denn das, ein erfülltes Leben zu leben?
Schulz von Thun zeigt ein „4+1=5-Felder-Modell“ auf. Vier Felder, benannt nach den ersten vier griechischen Buchstaben, ein Quadrat mit vier Feldern. Jedes dieser Felder bietet die Möglichkeit, Erfüllung zu erfahren. Das fünfte Feld, mit dem letzten Buchstaben, Omega, bezeichnet, liegt als Kreis um den Schnittpunkt der vier Felder im Quadrat herum.
Erfüllung im Feld Alpha meint „Wunscherfüllung“ – ich kann Auskunft geben über die Wünsche, die sich für micherfüllt haben.
Erfüllung im Feld Beta meint „Sinnerfüllung“ – ich kann Auskunft geben über das, was sich durch mich erfüllt hat.
Erfüllung im Feld Gamma ist „biographische Erfüllung“ – ich kann Auskunft geben über die Höhen und Tiefen in meinem Leben, über die Art und Weise, wie ich sie bewertet und wie ich sie verarbeitet habe.
Erfüllung im Feld Delta ist „Daseinserfüllung“ – Ich kann Auskunft geben, ob und wie ich mich als Teil eines höheren Ganzen erlebt habe, ob es mir gelingt, den Augenblick wahrzunehmen und das Geschehen zu würdigen.
Erfüllung im Feld Omega ist „Selbsterfüllung“ – ich kann Auskunft geben über meine eigene Authentizität, über Momente, in denen ich ganz ich selbst sein konnte, ich denen ich mich und mein Selbst verwirklichen konnte, in denen deutlich wurde, was mich zutiefst ausmacht.
Dieses Feld Omega hat die Form eines Kreises, liegt auf den vier übrigen Feldern auf und bedient sich – je nach Persönlichkeit – dessen, was die vier Felder anbieten.
Nochmal eine freche Frage
„Harald, welches Gebot ist dir das wichtigste von allen?“ Tauschen Sie „Harald“ gegen Ihren Namen aus. Ich finde es – ähnlich wie im Evangelium die Frage des Schriftgelehrten – eine liebevoll-freche Frage, die ich Jesus (oder denen, in denen er mir gerade gegenübersitzt) dann stelle: „Willst Du es wirklich hören?“
Und wenn dann ein „Ja“ kommt, haben Sie die Situation, die man „Gebet“ oder „Bekenntnis“ nimmt, je nach Tonfall. Aber Sie wissen ja, das malen Sie sich einfach auf. „Die Bühne bereiten“, heißt das bei Ignatius. Bereiten Sie sich und bereiten Sie Jesus und denen, in denen er Ihnen erscheint, doch mal die Bühne Ihres erfüllten Lebens. Das lohnt sich, allemal!
Amen.
Köln 30.10.2021
Harald Klein