Der Trafo bei der Spielzeugeisenbahn und am Salzbach
Zu meinen wenigen Schätzen, die ich als Kind besaß, zählte neben einigen Matchbox-Autos, einer Seilbahn zum Hoch- und Runterlassen und einem Pappeimer voller Cowboys, Soldaten, Indianern (so sagte man früher), Pferden und Tipis eine kleine Spielzeugeisenbahn. Nicht groß, etwa so wie eine halbe Tischplatte, mit einem grünen Plastikteppich ausgelegt, die Gleise im Kreis zusammengefügt, fuhr die kleine Bahn vor oder zurück, je nach Drehen des Schalters am – ja am was? „Trafo“ nannte das mein Vater. Den Schalter am „Trafo“ drehen hieß, der Bahn zu sagen, welche Richtung sie einzuschlagen habe, und wie schnell sie fahren soll. Das habe ich gelernt, aber was ein „Trafo“ ist, das dauerte noch etwas.
Und noch eine Kindheitserinnerung: Am westlichen Dorfrand stand nahe am Salzbach ein kleines Häuschen, fensterlos, abgeschlossen. Im Vorbeigehen hörte man ein lautes Rauschen im Häuschen, es sei ein „Transformatorenhäuschen“ sagte mein Vater, und die Predigt heute gibt Gelegenheit nachzuschauen, was das ist. In einer Transformatorenstation, sagt Wikipedia, „wird die elektrische Energie aus dem Mittelspannungsnetz mit einer elektrischen Spannung von 10kV bis 36 kV auf die in Niederspannungsnetzen (Ortsnetzen) verwendeten 400/230 V zur allgemeinen Versorgung transformiert (umgewandelt).“[1] Ob Du jetzt schlauer bist? Ich bin es nicht! Nur eines habe ich – Dank des letzten Wortes der Klammer – begriffen: Transformation hat etwas mit Umwandlung zu tun!
Die zwei Weisen der Transformation
Auf der Suche nach einer Definition des Begriffes „Transformation“ lande ich als Erstes beim Gabler-Banklexikon auf einer allgemeinen Definition: „Der Begriff der Transformation bezeichnet allgemein eine Wandlung von Form, Struktur oder Gestalt mit oder ohne Inhalts- und Substanzverlust von einem Ausgangs- in einen Zielzustand.“[2]
Die Seite der Freien Universität Berlin ergänzt um einen zweiten Begriff oder Inhalt, der sich eher auf gesellschaftlicheTransformationsprozesse bezieht: „Am FFU verstehen wir gesellschaftliche Transformation als einen langfristigen Prozess, der weitreichende Veränderungen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft (Teilsysteme) umfasst – von Produktions- und Konsummustern, über rechtliche Konzepte, Organisationsformen bis hin zu kulturellen Vorstellungen.“[3]
Wenn Du Dir die beiden Definitionen ansiehst, kannst Du merken, wie sehr sie sich unterscheiden. Transformation könnte nach der ersten Definition heißen: Ich ziehe von A nach B. Geplant, bestellt, umgezogen, fertig. In dieser Form der Transformation ist das Ziel klar, der Weg dorthin bedacht, und diesen Weg wirst Du begehen, um zu Deinem Ziel zu gelangen. Du drehst den Schalter, wie bei der Spielzeugeisenbahn, Richtung und Geschwindigkeit sind vorgegeben und – wenn Du aus dem Kreis der Schienen auszubrechen vermagst – Richtung, Geschwindigkeit und Energie bringen Dich dorthin, wohin Du wolltest. Vielleicht konntest du nicht alles mitnehmen, musstest manches zurücklassen, hast jetzt ein Zimmer mehr oder weniger, aber Du bist durch! In den Worten der ersten Definition: von einem Ausgangs- hin in einen Zielzustand. Aber: woher kommt eigentlich der „Zielzustand“? Wer bestimmt ihn? Und was gibt den Impuls zum Aufbruch, zum Gehen und Durchhalten bis zum „Ankommen“?
Die Transformation des Schriftgelehrten
Eine kleine Überleitung zur zweiten Definition: Im heutigen Evangelium kommt ein Schriftgelehrter zu Jesus und fragt: „Welches Gebot ist das erste von allen?“ Jesus antwortet mit dem Gebot der Gottes-, der Nächsten- und der Selbstliebe. Der Schriftgelehrte anerkennt und lobt Jesu Antwort und setzt noch einen drauf: Gott, den Nächsten, sich selbst zu lieben sei weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer.
Nur zur Erinnerung: Es gibt eine ähnliche Begegnung mit einem reichen Jüngling, der Jesus fragt, was er denn tun müsse, um das ewige Leben zu gewinnen? Jesus zeigt ihm als Weg der Transformation auf, er möge seinen Reichtum weggeben und ihm dann nachfolgen; der Jüngling geht traurig weg, denn er hatte ein großes Vermögen (Mt 19,16-30).
In Sachen „Transformation“ hatte der reiche Jüngling wohl die erste Weise der Transformation im Blick: aus dem Ausgangszustand, dem Leben hier und jetzt, in den Zielzustand, ins ewige Leben. Er fragt den Meister, den Lehrer, will die Antwort, den Weg zum Ziel von außen. Der Inhalts- und Gehaltsverlust werden wohl zu hoch gewesen sein, er geht traurig weg.
So anders der Schriftgelehrte heute im Evangelium. Er kommt mit einer inneren Ahnung, will sie aber mit Jesu Antwort Jesus abgleichen: „Welche Gebot ist das erste von allen?“ Da ist nichts von Meister oder von Lehrer, da ist eine große Selbstgewissheit und eine Begegnung auf Augenhöhe! Er fühlt sich innerlich zutiefst bestätigt von dem, was Jesus sagt, und antwortet: „Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast Du gesagt…“ und fügt noch hinzu, all das sei weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer. Sein „Meister“ höre ich ganz anders als das des reichen Jünglings, immer noch auf Augenhöhe, beinahe als sein Lob Jesu gegenüber. Hier geht es nicht um Selbstoptimierung, sondern um Selbstkultivierung, darum, sein Leben vom Ausgangszustand des „Jetzt“ auszurichten auf einen noch völlig unbekanntes Zielzustand, auf den hin lediglich die „Werkzeuge“, Gottes-, Nächsten-, Selbstliebe – klar sind. Hätte dieser Schriftgelehrte die zweite Definition von der Freien Universität Berlin gekannt, er hätte zugestimmt. Diese Transformation ist ein langfristiger Prozess. Der mitweitreichenden Veränderungen in allen Teilsystemen zu tun hat, in denen sich der Schriftgelehrte bewegt, von seinen Produktions- und Konsummustern, über rechtliche Konzepte, über seine Organisationsformen bis hin zu seinen kulturellen Vorstellungen.
Der eigene Trafo regelt Geschwindigkeit und Richtung, nicht Ziel
„Transformation“ wie etwa die des Schriftgelehrten im heutigen Evangelium ist in den östlichen Spiritualitäten und in der östlichen Meditation ein Schlüsselbegriff. Begriffe wie die Hinwendung vom unerleuchteten zum erleuchteten Geistspielen eine Rolle, Mitgefühl, Selbstfürsorge, liebevolle Güte sind Haltungen, die sich in der Meditation in Dir entwickeln.
Es geht im Feld der Spiritualität nicht darum, dass Du so handelst und dann entsprechend wirst – vom Ausgangs- in einen Zielzustand hinein. Umgekehrt gilt im Bereich der Spiritualität: Gönne Dir die Zeit der Meditation, des Gebetes, und in Dir erwächst ein Neues, eher Unbeabsichtigtes. Du bist im Spirituellen ohne einen Fahrplan unterwegs in der Offenheit, dass sich Dir etwas, jemand zeigt, der zu einem Zielzustand werden kann. Nicht Du transformierst Dich, sondern es (klein geschrieben) oder Es (großgeschrieben), ohne jetzt schon zu wissen, zu ahnen, wer oder was dieses es/Es ist. Du hast Einfluss auf die Geschwindigkeit, auch auf die Richtung, aber alles andere ist Dir entzogen. Zum Substanzverlust in einer echten spirituellen Transformation gehören auch die Aufgabe der Selbstbilder, die Du von Dir hast, und der Geschichten, die Du von Dir und für Dich bzw. über Dich, als Dein „Selbst“, immer erzählst, sei es Dir gegenüber leise, sei es anderen gegenüber laut. Transformation macht vor Deinem „Ich“ genauso wenig Halt wie vor Deinem „Selbst“.
Dazu braucht es Vertrauen. Kein Wunder also, dass Markus die Passage im Evangelium beendet mit: „Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte, und sagt zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ (Mk 12,34).
Ich glaube, so und nicht anders geht jede gottwärts gerichtete Transformation.
Amen.
Köln, 01.11.2024
Harald Klein
[1] vgl. [online] https://de.wikipedia.org/wiki/Transformatorenstation [01.011.2024]
[2] vgl. [online] https://www.gabler-banklexikon.de/definition/transformation-70694 [01.11.2024]
[3] vgl. [online] https://www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss/forschung/grundlagen/ffn/forschung/steuerung/gesellschaftliche_transf/index.html[01.11.2024]