31. Sonntag im Jahreskreis – Nicht Meister, nicht Vater, nicht Lehrer

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“Wohin soll ich mich wenden…?“

Ob Sie zu der Generation gehören, die die „Deutsche Messe“ von Franz Schubert (1787-1828) noch kennen – vielleicht kommen Sie ja auch aus dem katholischen Kulturkreis (eher im Süden Deutschlands und dann in Österreich), wo man in zweiwöchigem Wechsel diese Messe sonntags gesungen hat, alternativ zum „Deutschen Hochamt“ von Michael Haydn, dessen Eingangslied mit den Worten beginnt: „Hier liegt vor Deiner Majestät im Staub die Christenschar, das Herz zu Dir, o Gott, erhöht, die Augen zum Altar.“ Schuberts Eröffnungslied ist „Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken? Wem künd ich mein Entzücken, wenn freudig pocht mein Herz? Zu Dir, zu Dir, o Vater komm ich in Freud und Leiden; du sendest ja die Freuden. Du heilest jeden Schmerz.“

Dieses „Wohin soll ich mich wenden?“ könnte ein roter Faden für die Predigt zum heutigen Evangelium sein.

Vornweg ein klein wenig Physik – Sie kommen bald drauf, warum das wichtig sein könnte. An diesen letzten Sonntagen vor dem Advent und durch den Advent hindurch werden sog. „apokalyptische“ Evangelien gelesen. Es geht um das Ende der Zeit, der Welt sogar, es geht um Wiederkunft und um eine Zukunft von Gott her und auf ihn hin. Am 1. Weihnachtstag heißt es dann (aus Joh 1): „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben […].“

Jetzt die Physik, die für das heutige Evangelium wichtig wird! Stellen Sie es sich bildlich vor: Wenn das Licht in die Welt kommt, und Sie wenden sich dem Licht zu, wo liegen dann die Schatten? Völlig klar: hinter Ihnen! Wenn Sie sich denen zuwenden, die von diesem Licht erzählen, die auf da Licht deuten, wo sind dann die Schatten? Auch klar: vor Ihnen! Und viel bedeutungsvoller ist: das Licht strahlt dann die an, denen Sie sich zuwenden, und Sie haben das Licht „nur“ im Rücken, und den Schatten vor sich.

» ‘Ich werde da sein als der ich da sein werde. Das ist mein Wesen von Anbeginn‘ (Ex 3,14). Wenn diese Vision, dieser Glaube des Mose gilt, ist es niemals möglich, sich zu berufen auf et-was Gewesenes, um das Wesen Gottes zu markieren; vielmehr gilt es, immer neu den Aufbruch zu wagen in ein undefiniertes, unbekanntes Land. Gott ist das Gegenüber der Hoffnung, dass etwas ‚da sein‘ wird, das trägt, wenn es darauf ankommt – nicht mehr, nicht weniger. Diese Gestaltungskraft einer Hoffnung, die immer weiterführen und immer weiterdrängen wird, das ist der Gott des Mose, das ist sein ‚Lehrstuhl‘ das ist der ganze Inbegriff dessen, was dieser Mann zu sagen hat. «
Drewermann, Eugen (1995): Das Matthäus-Evangelium, Bd. 3: Bilder der Erfüllung, Solothurn/Düsseldorf, 147.

Ein Gott, der Ihnen voraus ist

Für mich ein Bild von „Kirche“. Sich denen zuwenden, die mir von Gott „erzählen“, die ihn „lehren“ oder meinen, seinen Willen vor- und auszulegen zu müssen, heißt immer, einen vergangenen Gott vermittelt zu bekommen. Es ist erst der Blick in die Gegenwart, ein Blick nach vorn, der Blick zum Licht, der Sie einen gegenwärtigen und sogar einen verheißenden, zukünftigen Gott erahnen lässt.

Vielleicht lässt sich in diesem kleinen physikalischen Moment zeigen, um was es in der Apokalypse der Kirche heute geht: Schauen Sie auf die, die sich „Meister“, „Vater“ oder „Lehrer“ nennen lassen, meist sich gegenseitig so bezeichnen, weil diese Anreden doch etwas angestaubt sind? Geht es Ihnen um das „Lehrgebäude“ der Kirche und der Theologie samt ihren Disziplinen, vornweg Dogmatik und Moral? Fällt das Licht, das alle Menschen erleuchtet, nur denen ins Antlitz, denen Sie sich zuwenden – dann haben Sie nach diesem Bild das Licht im Rücken, den Schatten vor sich.

Es könnte sein, dass die vielen Schatten, die sich so ergeben, in sich das „Lehrgebäude“ der Kirche verstecken, das zum „Leergebäude“ mutiert. Das Buch Exodus stellt den Namen Gottes vor mit „Ich bin“ und nicht mit „Ich bin gewesen“ oder „Ich war“. In seinem Kommentar zum Matthäusevangelium schreibt Eugen Drewermann: „‘Ich werde da sein als der ich da sein werde. Das ist mein Wesen von Anbeginn‘ (Ex 3,14). Wenn diese Vision, dieser Glaube des Mose gilt, ist es niemals möglich, sich zu berufen auf etwas Gewesenes, um das Wesen Gottes zu markieren; vielmehr gilt es, immer neu den Aufbruch zu wagen in ein undefiniertes, unbekanntes Land. Gott ist das Gegenüber der Hoffnung, dass etwas ‚da sein‘ wird, das trägt, wenn es darauf ankommt – nicht mehr, nicht weniger. Diese Gestaltungskraft einer Hoffnung, die immer weiterführen und immer weiterdrängen wird, das ist der Gott des Mose, das ist sein ‚Lehrstuhl‘ das ist der ganze Inbegriff dessen, was dieser Mann zu sagen hat.“[1]

» Da wird die Wahrheit schließlich zu einer bloßen Frage der Kleiderordnung. Trägt jemand ein bestimmtes feierliches Gewand, so umhüllt ihn die Aura und der Mantel des Göttlichen selber, so soll man denken; sein Leben spielt fortan überhaupt keine Rolle mehr, um so mehr jedoch sein Kostüm. Eine religiöse Köpenickade ist das Ergebnis, das wir hier vor uns haben. «
Drewermann, Eugen (1995): Das Matthäus-Evangelium, Bd. 3: Bilder der Erfüllung, Solothurn/Düsseldorf, 157.

Ein Gott, der sich im Leben, nicht in der Lehre mitteilt

In der Frage nach der Wahrheit Gottes und der Wahrheit, die Gott ausspricht, kritisiert Eugen Drewermann, dass Gott zu einem Gebrauchsgegenstand wird, aus dem heraus man Begründungen für Tun und Lassen ableiten kann – und die die Nachfolger der Schriftgelehrten und der Pharisäer oder der Hohepriester an das „Volk“ weitergeben. Noch einmal Drewermann: „Da wird die Wahrheit schließlich zu einer bloßen Frage der Kleiderordnung. Trägt jemand ein bestimmtes feierliches Gewand, so umhüllt ihn die Aura und der Mantel des Göttlichen selber, so soll man denken; sein Leben spielt fortan überhaupt keine Rolle mehr, um so mehr jedoch sein Kostüm. Eine religiöse Köpenickade ist das Ergebnis, das wir hier vor uns haben.“[2]

Das Apokalyptische an diesem Evangelium ist, dass Jesus die Reden der Frommen gelten lässt, aber klar rät, sich nicht nach ihren Taten zu richten. Es ist ein wirklich apokalyptisches – ein auf ein Ende hinweisendes – Wort, wenn Jesus seinen Jüngern und dem ganzen Volk sagt: „Lasst Euch nicht Rabbi nennen, denn nur einer ist Euer Meister, ihr alle aber seid Brüder. Auch sollt Ihr niemanden auf Erden Euren Vater nennen, denn nur einer ist Euer Vater, der im Himmel. Auch sollt Ihr Euch nicht Lehrer nennen lassen, denn nur einer ist Euer Lehrer, Christus“ (Mt 23,8-10).[3]

» Das ist also der entscheidende, der hauptsächliche Anklagepunkt, den Jesus geltend macht: dass Gott hier nicht gelebt, sondern gelehrt wird. «
Drewermann, Eugen (1995): Das Matthäus-Evangelium, Bd. 3: Bilder der Erfüllung, Solothurn/Düsseldorf, 147.

Gott – im Leben, nicht in der Lehre

Zugegeben: es ist leichter, sich mit Ihren Schatten, die vor Ihnen liegen, denen zuwenden, von denen Hunderte und Tausende sagen, sie seien „Christliche Meister“, Heiliger Vater“ oder „weise Lehrer“. Sie dürfen Sie ja auch im Rücken behalten, aber nur, insofern Sie sich ein Leben nach vorn und den Blick nach vorn zutrauen. Dort finden Sie Gott, Ihnen voraus, in Ihrem Leben, nicht in der Lehre. Noch ein vorletztes Mal Eugen Drewermann: „Das ist also der entscheidende, der hauptsächliche Anklagepunkt, den Jesus geltend macht: dass Gott hier nicht gelebt, sondern gelehrt wird!“[4]

» Wir werden niemals ‚Kinder Gottes‘ werden, solange wir uns infantil abhängig halten lassen von der Vatergestalt eines Menschen, der sich im Namen Gottes vor und über die Gläubigen stellt! «
Drewermann, Eugen (1995): Das Matthäus-Evangelium, Bd. 3: Bilder der Erfüllung, Solothurn/Düsseldorf, 158.

Noch einmal: Wohin soll ich mich wenden?

Jetzt ist hoffentlich klar, was die Schubert-Messe und das kleine physikalische Experiment sollten. Es ist in dieser apokalyptischen Zeit der Kirche die Frage, wohin wir uns wenden wollen. Es gibt noch nicht einmal „richtig“ und „falsch“, es gibt nur die Alternative der Zuwendung zu „Meister, Vater, Lehrer“ mit dem Licht im Rücken und den Schatten vor Ihnen (das Modell der letzten sagen wir mal 2000 Jahre) oder der Zuwendung zum Licht, und Sie haben dann die Schatten hinter Ihnen, und die „Meister“, “Väter, Lehrer“ auch. Sie entscheiden, ob Sie sie mitnehmen wollen (das gilt übrigens auch für die Schatten). Sie sehen: „Wohin soll ich mich wenden?“ – Sicher nicht mehr zu „Hier liegt vor Deiner Majestät im Staub die Christenheit.“ Einzelne haben das immer wieder probiert, ihr Ende war häufig dramatisch, wenn nicht tödlich, dank der Meister, der Väter, der Lehrer!

Drewermanns Beinahe-Schlusswort zum Kommentar dieser Bibelstelle möchte ich Ihnen weitergeben, weil es trotz seiner beinahe 30 Jahre unglaublich aktuell ist diese Apokalypse der Kirche hineinspricht: „Ja, was bleibt uns dann, wird vielleicht mancher fragen, wenn all die Organisationsformen zusammenbrechen? […] Die Antwort dieses Textes ist ganz einfach: Wir brauchen nicht nach einem äußeren Halt in Form priesterlicher und theologischer Außenlenkung zu suchen, sondern wenn wir wissen möchten, was menschliche Größe ist, wie Gott sie von uns will, so liegt sie einzig in der Dienstbarkeit aller füreinander. Was Jesus hier sagt, sind Worte von einer so ungeheuren Freiheit und einer derartigen menschlichen Größe, dass man immer wieder erschrocken und erstaunt darüber sein wird. Was wirklich hochzuschätzen ist, meint er, ist einzig das Bemühen, einem anderen Menschen gut zu sein. Bei dem Wort ‚dienen‘ (Mt 23,11) denkt man viel zu leicht an so etwas wie Selbstentwürdigung oder Untertänigkeit; gemeint aber ist ganz einfach ein ehrliches Suchen nach dem, was einem anderen Menschen zu nützen vermag und was ihm hilft zu leben. Je weniger man sich daher zum Thema macht, je weniger man dem anderen vorschreibt, so müsse er tun, sondern einfach ihm zuhört, um herauszufinden, was in ihm lebt, wird man Gott finden.

In dem gleichen Maße, wie menschliches Vertrauen und persönliche Vertrautheit zu wachsen beginnen, reift auch Gott in uns. Da ist es ein und dasselbe, in sich selbst hineinzuhören und auf einander zu hören; und es ist ein und dasselbe, auf Gott zu hören und sich wechselseitig dienstbar und gehorsam zu werden. Das gilt nicht minder vom Dienst an der gesamten Schöpfung, vor allem, was lebt, was fühlt und sich aussagt, nicht ausgenommen und nicht zuletzt auch die unschuldigen Tiere.“[5]

Sein Schlusswort ist ein Gedicht von Rainer Maria Rilke aus seinem Stundenbuch, das mit den Worten beginnt „Ich finde dich in allen diesen Dingen“, und er hängt an das Gedicht nur noch an: „Dichter als in diesen Dichterworten lässt es sich nicht sagen.“ [6] Vielleicht habe ich Sie neugierig gemacht auf dieses Gedicht? Sie könnten sich Rilke und seinem Stundenbuch zuwenden.

Amen.

Köln, 03.11.2023
Harald Klein

[1] Drewermann, Eugen (1995): Das Matthäus-Evangelium. Bilder der Erfüllung, Dritter Teil, Solothurn/Düsseldorf, 147.

[2] a.a.O., 157.

[3] Mir ist wohl bewusst, dass es “Meisterinnen”, “Mütter“ und Lehrerinnen“ gibt, ich wollte aber dem Evangelientext treu bleiben.

[4] a.a.O., 147.

[5] a.a.O., 159f.

[6] a.a.O., 160.