Die Leidenschaft des Zachäus und die Geduld Jesu
Für den tschechischen Soziologen, Philosophen, Psychologen und Theologen Tomáš Halik hat die Figur und die Geschichte des Zollpächters Zachäus aus Jericho eine besondere Bedeutung. Sein Buch „Geduld mit Gott. Die Geschichte von Zachäus heute“ erschien 2010 in Deutschland, spätestens seit dieser Publikation ist Tomáš Halik gern gesehener und gern gehörter Gast in Akademien, Katholiken- und Kirchentagen, aber auch in der Vielfalt der öffentlichen Medien. Es gelingt ihm, auf die jeweilige ihm begegnende Wirklichkeit sowohl soziologisch und philosophisch als auch psychologisch und theologisch zu schauen und die ihm begegnende Wirklichkeit vielfach zu deuten. Neun weitere Bücher sind bis 2022 erschienen, und alle bewegen sich in diesem Feld mit vier Seiten.
Aber heute geht der Blick nur auf Zachäus. Steht auf der Titelseite des Buches von Tomáš Halik noch „Geduld mit Gott. Die Geschichte des Zachäus heute“, so findet sich auf der dritten Seite eine Veränderung im Titel: „Geduld mit Gott. Leidenschaft und Geduld in Zeiten des Glaubens und des Unglaubens“. – Und damit liefert Tomáš Halik eine kleine vierpolige Gliederung, die helfen kann, die Geschichte des Zachäus zu deuten.
Leidenschaft
Zachäus gehört zu den „Märtyrern der Religionspädagogik“, spätestens ab dem Besuch der konfessionellen Kindertagesstätten oder der Grundschule, in denen noch Religion unterrichtet wird, gehört Zachäus ins Repertoire – wohl, weil er von Gestalt eher klein war, musste er doch auf einen Maulbeerfeigenbaum steigen, um Jesus vorbeikommen zu sehen.
Zachäus‘ erste Leidenschaft ist erst einmal negativ konnotiert. In Jericho war er der oberste Zollpächter, und er war reich, erzählt Lukas. Er wird wohl seinen Job für die römischen Besatzer gut gemacht haben, woher mag sonst sein Reichtum kommen? Und vermutlich war seine soziale Armut der Preis seines Reichtums. Wer bitte – außer den anderen Kollaborateuren – will mit einem Freund der Römer zu tun haben?
Zachäus‘ zweite Leidenschaft stellt Lukas ziemlich einmalig in seiner Wortwahl vor: „Er (Zachäus) suchte Jesus, um zu sehen, wer er sei, doch er konnte es nicht wegen der Menschenmenge, denn er war klein von Gestalt. Darum lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus zu sehen, der dort vorbeikommen musste“ (Lk 19,3-5) Wenn das mal keine Leidenschaft ist: Der Kleine, der wegen der Menschenmenge nichts sehen kann, rennt die Strecke entlang voraus, an der Jesus gehen wird, und steigt auf einen Baum, um den Überblick zu haben. Zachäus zeigt Einsatz! Die Frage ist, warum? Lukas gibt die Antwort: „Er suchte Jesus, um zu sehen, wer er sei“ (Lk 19,3). Suche aus Leidenschaft!
Ein erstes Zwischenergebnis: Leidenschaft in Zeiten des Glaubens und des Unglaubens kann zur Suche führen oder zumindest mit Suchen zu tun haben. – Und ein erstes Innehalten: wie sieht das bei dir aus? Mit der Leidenschaft für Jesus, und mit der Suche nach ihm?
Geduld
Über die Geduld des Zachäus habe ich noch nie nachgedacht. Da wird es die Geduld des Einsamen geben, der als Zollpächter zwar Geld hat, aber niemand, mit dem er es ausgeben kann. Reich, aber einsam. Mich erinnert er an den geizigen Misanthropen Ebenezer Scrooge aus Dickens‘ Weihnachtsgeschichte, den der Geist eines verstorbenen Geschäftspartners und dann die drei Geister der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft besuchen und der so über sich erschrak, dass er sich bekehrte und zum Menschenfreund wurde.
Ich frage mich, welche Geister dem Zachäus erschienen sind, die ihn veranlassen, Jesus zu suchen, um zu sehen, wer er sei. Von Kafarnaum und dem See Genezareth, wo Jesus sich vorher aufhielt und von wo er sich auf den Weg nach Jerusalem machte, bis nach Jericho, einer Zwischenstation, sind es ungefähr 160 km. Ein Wunder, dass die Botschaft von Jesus diese Distanz in dieser Zeit überwinden konnte. Kein Wunder, dass Zachäus diese Distanz nicht unter die Füße nahm. Er hatte Geduld und übte sich darin. Irgendwann mag der Moment kommen, in dem seine Suche nach Jesus sich erfüllte und er ihn sehen konnte. Und wenn ihm, dem Kleinen, jetzt die Menschenmenge im Weg war, hilft nur eins: vorauslaufen und auf den Baum steigen. Hier und heute hat die Geduld ein Ende – hier und heute will Zachäus sehen, wer dieser Jesus sei.
Ein zweites Zwischenergebnis: Schau dir deine „Geister“ an, die dich antreiben, Jesus zu suchen. Ist das der Geist der Musik, der Orgelkonzerte und der würdigen Liturgien? Oder der Geist der Gerechtigkeit, in dem du die Welt um dich herum verändern magst? Oder der Geist des Verstehens, gar der Geist der Weisheit, der dir Impulse zur Kultivierung deines Lebens gibt? Oder welcher „Geist“ treibt dich an? So, dass du den günstigen Moment abwartest, dann aber aufbrichst, und nicht mehr zu bremsen bist? Wie kommst du ins Handeln?
Glauben
Wer vermag über den Glauben des Zachäus zu urteilen? Als Kollaborateur mit den römischen Besatzern mag er zwar dem jüdischen Volk und der jüdischen Gemeinde in Jericho angehören. Er mag vertraut sein mit den Riten und den Gebeten seines Volkes. Und doch glaube ich, dass er eher „geghostet“ wurde, nicht gesehen, nicht eingeladen und nicht angefragt. Man sagt, das Lukasevangelium sei 80-90 n.Chr. entstanden. Der Brief an die Hebräer wurde ca. 60-70 n.Chr. verfasst. Das könnte heißen, dass der mündlichen Überlieferung nach dem Evangelisten Lukas die Definition von „Glauben“ aus dem Hebräerbrief bekannt ist. Dort heißt es: „Glaube aber ist: Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht“ (Hebr 11,1). Glaube hat für Zachäus mit diesem „Feststehen in dem, was er erhofft“ zu tun – einmal Jesus sehen und erahnen, wer er sei. Das erklärt seine Leidenschaft! Und es hat für Zachäus zu tun mit dem „Überzeugtsein von Dingen, die er nicht sieht“ – oder zumindest noch nicht gesehen hat. Das könnte der erwartete Erlöser, der Messias sein, das könnte die neue Wirklichkeit sein, die mit Jesus einsetzt. Diese Überzeugtsein erklärt seine Geduld!
Ein drittes Zwischenergebnis: Stell dir vor, Zachäus fragte dich, was für dich „Glaube“ sei und was Du damit verbindest. Was würdest du ihm (ok, eigentlich nur dir selbst) antworten? Und kann die die alte Formel aus dem Hebräerbrief helfen: „Glaube aber ist: Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht“ (Hebr 11,1).
Unglauben
Das Schönste an der Geschichte mit Zachäus ja kommt noch. Lukas erzählt in seinem Evangelium weiter: „Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und sagte zu ihm: Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus bleiben. Da stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf“ (Lk 19,5f).Ob Zachäus bunte Gewänder trägt, oder ob er Jesus gewunken hat? Die Straße voller Menschen, Jesus kämpft sich durch, und doch kennt er nicht nur die Stelle mit dem Maulbeerfeigenbaum, auf dem Zachäus sitzt, er kennt auch dessen Namen! Und er geht in Beziehung, er stellt den Kontakt her, er nennt Zachäus beim Namen! Er kommt dem Zachäus entgegen!
Ich vermute, es ist die freudige Überraschung des Zachäus, die ihn vom Baum herunterholt, die ihn Jesus bei sich aufnehmen lässt, die ihn dazu bringt, die Hälfte seines Vermögens – nicht nur den Zehnten – den Armen zu geben.
Unglaube wäre es gewesen, wenn Zachäus sich im Baum versteckte. Wenn er „Zuschauer“ bliebe, nicht „Mitspieler“ würde. Wenn er das Geschehene nur „kommentierte“ und nicht „veränderte“, wenn das Leben keine Wendung nähme. Lukas schildert das wieder sehr schön! „Ungläubige Kommentierende“ sind die anderen auf der Straße: „Und alle, die das sahen, empörten sich und sagten: Er ist bei einem Sünder eingekehrt“ (Lk 19,7). Zachäus wird aber zum „glaubend Handelnden“: „Zachäus aber wandte sich an den Herrn und sagte: Siehe, Herr, die Hälfte meines Vermögens gebe ich den Armen, und wenn ich von jemandem zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück. Da sagte Jesus zu ihm: Heute ist diesem Haus Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist.“
Ein viertes Zwischenergebnis: Leidenschaft, Geduld und Glaube des Zachäus habe sich bewährt und gelohnt. Zachäus steht in Freude da, die anderen in Empörung. Wenn du dir die Sprache des Zachäus anschaust: er wollte sehen, wer Jesus sei, und hat den Herrn gefunden! Freudig nimmt Zachäus Jesus bei sich auf. Was Zachäus in seiner Einsamkeit keinem sagen konnte, macht er jetzt vor Jesus, seinem Herrn, kund. Seinen Dienst als Zöllner, unverstanden von denen, die auf der Seite des Unglaubens stehen, hat er gewissenhaft versehen. Er ist bereit, die Armen in hohem Maß zu unterstützen.
Ich glaube, auch diesen Gliederungspunkt – Unglaube – kannst du auf dein Leben und Erleben beziehen. Der letzte Satz des Evangeliums lautet: „Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist“(Lk 19,10). „Unglaube“ steht in der Geschichte von Zachäus – und vielleicht auch in deiner Geschichte – für eine ungute Beharrlichkeit, für Kommentieren statt Handeln, dafür, anderen im Weg zu stehen, die Sicht zu nehmen, und dafür, an dem Bisherigen festzuhalten, Entwicklungen im Weg zu stehen. „Glaube“ steht in der Geschichte des Zachäus – und vielleicht in deiner Geschichte – für „Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht“ (Hebr 11,1)
Im Leben des Glaubens, im lebendigen Glauben, geschieht dieses Leben als ein Schwingen von einem Pol zum anderen und wieder zurück. Die Impulse dieses Schwingens mögen von innen kommen, oder von außen, ganz gleich, aber sie kommen.
Ahnst du die Parallele zwischen und Tomáš Halik? Es gelingt beiden, auf die jeweilige ihnen begegnende Wirklichkeit sowohl soziologisch und philosophisch als auch psychologisch und theologisch zu schauen und die ihnen begegnende Wirklichkeit vielfach zu deuten. Zachäus ist der Garant dafür, dass Leidenschaft und Geduld in der Suche, wer Jesus sei, und die Wahrnehmung von Glauben und Unglauben lohnenswert sind, um sich von einem dir entgegenkommendenGott beim Namen ansprechen zu lassen, den Ort des Wartens, der Neugier und des Schauens zu verlassen und das Haus, das Leben mit diesem dir entgegenkommenden Gott zu teilen.
Zachäus nahm Jesus freudig bei sich auf. Die sich bei dir einstellende Freude ist das Kriterium, du dich hast finden lassen, mehr noch: ob du so etwas wie Rettung spürst.
So viel für heute – und für die Woche.
Köln, 01.11.2025
Harald Klein