Zwei Weisen des Weltbezugs: extrovertiert und introvertiert
„Kommen Menschen in Gesprächsrunden zusammen, lassen sich grob zwei verschiedene Verhaltensweisen beobachten: Da gibt es diejenigen, die gern im Mittelpunkt stehen und lauthals Anekdoten erzählen. Auf der anderen Seite sind die eher Schweigsamen, die lieber zuhören und das Gespräch mit Vertrauten suchen. Während erstere keine Party auslassen, gehen letztere nur ab und zu feiern und freuen sich, wenn sie wieder zu Hause sind – allein.“[1] Die beiden Verhaltensweisen, die von Hannah Schultheiß hier beschrieben werden, sind zwei Weisen von Resonanz, wie sie Hartmut Rosa in seinem gleichnamigen Buch beschreibt. Resonanz definiert er nicht als emotionalen Zustand, sondern als Beziehungsmodus.[2]
Psychologisch gesprochen, unterscheidet Hannah Schultheiß die beiden Verhaltensweisen oder die beiden Formen, in Resonanz zu gehen, mit den geläufigen Begriffen „extrovertiert“ und „introvertiert“. Sie bietet folgende Metapher an: „Lädt jemand seine Akkus im Austausch mit anderen Menschen auf und zieht daraus viel Inspiration? Dann ist die Person wohl eher extravertiert (umgangssprachlich auch extrovertiert genannt). Introvertierte hingegen brauchen mehr Zeit für sich, haben häufig viel Fantasie und ziehen aus beidem ihre Energie und ihre Inspiration. […] Auch tendenziell Extravertierte sind hin und wieder gern für sich. Und da alle Menschen soziale Kontakte brauchen, suchen auch Introvertierte den Austausch mit anderen. Nur eben vergleichsweise weniger.“[3]
Machen Sie doch mal einen Selbsttest. Alle „W“-Fragen bieten sich an, um zu sehen, wann, wem gegenüber, wo, warum, wie lange usw. Sie eher introvertiert oder eher extrovertiert handeln und empfinden.
Schüchtern sein heißt leiden an der Introversion
Ich habe aus dem Artikel von Hannah Schultheiß gelernt, dass Extro- und Introversion wertfreie Begriffe sind, dass es kein besser oder schlechter, nur ein anders gibt. Und dass man leiden kann, sowohl an der Extroversion als auch an der Introversion. Die Leidensform in der Introversion ist die Schüchternheit.
Schüchternheit „sollte nicht mit Introversion verwechselt werden. Denn: Schüchterne Menschen reagieren in vielen Situationen gehemmt. Sie fühlen sich etwa auf Partys unwohl, haben Angst nur in der Ecke zu stehen, und trauen sich nicht, andere Menschen anzusprechen. […] Die wichtigste Unterscheidungsmöglichkeit: Introversion erzeugt keinen Leidensdruck. Bei der Schüchternheit und den dazugehörigen sozialen Ängsten hingegen leiden die Betroffenen. Sie wären gerne sicherer und unbefangener bei der Begegnung mit anderen.“[4] Nicht nur Extrovertierte, auch Introvertierte werden es nicht leicht haben, dem Leidensdruck der Schüchternen empathisch zu begegnen – sie kennen beide den Leidensdruck nicht, den die Schüchternheit bewirkt.
Zachäus der Schüchterne
Ich stelle mir als Vorbild eines introvertiert handelnden und empfinden den Menschen Lenni Wandmann, gespielt von Thiemo Meitner, vor Augen. In seiner Rolle mit den Symptomen des Asperger-Autisten im Freitagskrimi „Der Alte“ führt er alle Daten und Fakten zusammen. Er recherchiert hervorragend im Internet und in alten Akten, hat es aber schwer mit den „normalen“ Vorgängen der Kommunikation und des Zusammenseins im Büro klarzukommen. Wöchentlich wird dieser Introversions-Zugang zur Welt an den Donnerstagen ebenso hervorragend von Benjamin Strecker als Rico Sander in der „Soko Stuttgart“ dem Publikum vor Augen geführt.
Und dann Zachäus im Evangelium. Klein von Gestalt, vielleicht übersehen und verlacht, immer der Letzte, vielleicht auch der Unverstandene, dessen „Weltbezug“ so anders war als der der anderen – man mag sich die Resonanz zwischen ihm und den anderen kaum vorstellen.
Es kann nur die ihm wesenhaft nahezu autistische Genauigkeit und die Suche nach Anerkennung bzw. Abgrenzung des Zöllners Zachäus gewesen sein, die ihm das Amt des Oberzöllners hat zuwachsen lassen – was hätte ihn sonst für dieses Amt bei den Römern, den Feinden, empfohlen? Mag es früher als Kind und Jugendlicher seine Kleinheit gewesen sein, wegen der man ihn wohl übersah, ist es jetzt der Verkauf seiner Seele an die Römer, in deren Auftrag er Steuern eintreibt. Nur: Was war Ursache, was ist Wirkung? Die Anerkennung der anderen ist ihm verwehrt. Ob er sich selbst noch Anerkennung zollt? Die Frage ist nur, auf wessen Anerkennung er überhaupt noch Wert legt.[5]
Der zum Schweigen gebrachte, vielleicht verstummte Zachäus hört von Jesus. Gerade eben hat jesus noch den blinden Bettler geheilt. „Herr, ich möchte wieder sehen können“, gab der blinde Bettler Jesus zur Antwort, als er ihn fragte: „Was soll ich Dir tun?“
Die Sehnsucht des Zachäus ist eine andere, doch ähnliche. Eugen Drewermann schreibt: „Jesus sehen, nur ihn sehen, nicht mit ihm reden, nicht zu ihm rufen, wie jener blinde Bettler, nur in seine Augen schauen, um zu prüfen, wie dieser Gottesmann ihn anschauen wird – es wäre wie ein Traum, der sich erfüllt. Welch ein Ansehen wird er bei einem Mann wie Jesus haben? Das ist die Frage, auf die er eine Antwort sucht. […] Er möchte Jesus sehen, um von Jesus angesehen zu werden, um sich – für einen flüchtigen Augenblick wenigstens – vorstellen zu können, bei ihm ‚ansehnlich‘ zu sein. Und Jesus, im Vorübergehn, wortwörtlich, begreift auf einen Blick die Lage dieses Mannes.“[6]
Schüchtern, wie er ist, bittet Zachäus nicht die „Großen“, die „Mächtigen“, die „Gewaltigen“, am Straßenrand, ihn vorzulassen – dem Introvertierten wäre das schon schwer, aber dem Schüchternen erst! Stattdessen klettert er auf den Baum, will in der Sicherheit des Abgeschirmt- und des Alleinseins beobachten – mehr nicht -, was da geschieht. Nur um vielleicht diesem Jesus in die Augen schauen zu können, wenn er, Zachäus, sich das traut.
„In Deinem Haus muss ich bleiben!“
Das Evangelium erzählt dann nicht nur von Ansehen, sondern auch von Ansprechen. „Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und sagte zu ihm: Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in Deinem Haus bleiben“ Lk 19,5). Wie es weitergeht, kennen Sie oder können Sie nachlesen. Dass Zachäus trotz seiner Schüchternheit wahrscheinlich freudig vom Baum steigt, dass er das, was man ihm als Oberzöllner vorwerfen kann – Betrug und Anhäufung ungerechten Reichtums – an die Armen weggeben und sich ihnen dabei zuwenden will, er, der Schüchterne, hat nichts mit einer Lehre, mit Gesetzen und Geboten zu tun. Eugen Drewermann kommentiert: „Nicht eine Lehre ermöglicht die Veränderung im Leben des Oberzöllners, sondern sein Eintritt in ein Feld von Akzeptanz und Güte.“[7]
Den Schüchternen (unter)stützen
Ich frage mich an der heutigen Lesart der Zachäus-Geschichte, welche Weisen der Unterstützung einem Schüchternen guttun. Die erste Hürde könnte sein, dass er es selbst nicht sagen, nicht formulieren kann – da ist er ja bereits schon in seiner Introvertiertheit befangen. Das von Drewermann beschrieben Feld der Akzeptanz und der Güte kann sprachlos angeboten und geöffnet werden, damit ist für Zachäus, den Schüchternen, ja schon viel gewonnen, und er wird nicht der einzige sein.
Das zweite wäre, den Mut zu sehen, der hinter den objektiv oft kleinen, für den Schüchternen aber doch sehr großen Schritten steht. Sich rauszutrauen aus dem Schneckenhaus gehört gesehen und gehört gewürdigt! Im „Komm schnell herunter“ würdigt Jesus die Sehnsucht, die Präsenz und die „Baum-Lösung“ des Zachäus – und er gibt die bis heute gültige Folgerung: Du bist es mir wert, bei Dir will ich zu Gast sein.
Das dritte wäre, den Schüchternen zum „Ich“ zu ermutigen. Noch einmal Eugen Drewermann, der den Ausgang der Zachäus-Geschichte wie folgt kommentiert: „Nicht mehr die Maßstäbe und Wertungen anderer Menschen sind jetzt wichtig, nur was wirklich für das eigene Leben stimmt, hat fortan noch Bedeutung. Die Frage ist jetzt auch nicht länger: ‚Wer ist Jesus?‘, die Frage, die sich wirklich stellt, heißt: ‚Wer bin ich?‘“[8] An dieser Frage dranbleiben, dem Schüchternen sagen, wer er für mich sei, aber auch ihn zu bitten, mir zu sagen, wer ich für ihn sei – wertschätzend, Halt gebend, mitgehend und begleitend.
Vielleicht kann auf diese Weise der Leidensdruck der Schüchternen ein wenig abgefangen werden. Sicherheit und Unbefangenheit in der Begegnung ist nichts, was nur ihnen gut tut in Kommunikation und Begegnung!
So sei es! Amen.
Ein verspäteter Namenstagsgruß!
Köln 27.10.2022
Harald Klein
[1] vgl. Schultheiß, Hannah: Bitte nicht Ansprechen! in: [online] https://www.zeit.de/gesundheit/zeit-doctor/2022-09/soziale-angststoerungen-schuechternheit-introversion [27.10.2022]
[2] Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., Berlin, 298.
[3] vgl. Schultheiß, Hannah, a.a.O.
[4] vgl. Schultheiß, Hannah, a.a.O.
[5] vgl. Drewermann, Eugen (2009): Das Lukas-Evangelium, Bd. 2: Bilder erinnerter Zukunft, Düsseldorf, 486.
[6] Drewermann, Eugen (2009): Das Lukas-Evangelium, Bd. 2: Bilder erinnerter Zukunft, Düsseldorf, 490.
[7] Drewermann, Eugen (2009): Das Lukas-Evangelium, Bd. 2: Bilder erinnerter Zukunft, Düsseldorf, 497.
[8] Drewermann, Eugen (2009): Das Lukas-Evangelium, Bd. 2: Bilder erinnerter Zukunft, Düsseldorf, 496.