32. Sonntag im Jahreskreis – Alles geben

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Des Lebens müde werden

Die evangelische Pfarrerin Sabine Steinwender erzählt am vergangenen Freitagmorgen in „Kirche in WDR2“ von einem Leichensammler. Der Bestatter Martin Zamora hat es sich in Gibraltar und Andalusien zur Aufgabe gemacht, ertrunkene Geflohene zu identifizieren und sie zur Bestattung zurück in ihre Heimat zu schicken. In den ersten sechs Monaten sind in Südspanien 2100 Geflohene ertrunken angeschwemmt worden, darunter 340 Frauen und 90 Kinder. In 20 Jahren habe Martin Zamora 800 Leichen identifiziert, einbalsamiert, überführt.

Eines begleitet mich durch den Tag: Da ist ein Bestatter, der an der Küste Gibraltars  oder Andalusiens lebt. Dass er nicht seines Lebens müde wird, so viele Ertrunkene, Männer, Frauen, Kinder. So viele namenlose, gesichts- und geschichtslose Menschen.

Ich habe die Witwe aus der Lesung, aus der Elija-Geschichte im Blick: Auch sie geht noch einmal vor die Tür, allerdings um Holz zu holen; der Sohn liegt sterbend zu Hause, die Bilder, die sie täglich sieht, lassen sie ihres Lebens ermüden. Noch einmal essen, dann wollen sie und der Sohn gemeinsam sterben. So begegnet sie dem Elija.

Ganz anders der Bestatter Zamora. Er geht Tag für Tag raus, wenigstens dann, wenn er gerufen wird, auch er sieht die Bilder des Todes – aber sich hinlegen, um zu sterben, da ist er weit weg von!

Der Text am frühen Morgen[1] hört sich spannend an, ich schwanke aber auch zwischen anstößig und nachahmenswert.

» Du sollst auch überhaupt nicht weiterkommen. Bleib, wo du bist, wo immer das sein mag, und gehe in die Tiefe. Es geht nie voran, sondern immer nur hinein. Dort liegt das, was du suchst, die nächste Stufe. [...] Erlebe die Kraft der Ein-Sicht. Aus-Sichten dagegen ..., nun, die werden dich nur aufregen! «
Brahm, Ajahn (2018): Wie hilft der Bär beim Glücklichsein? Fragen und Antworten für den buddhistischen Weg zu einem achtsamen und erfüllten Leben, München, 71.

Zwischen Anstoß nehmen und Nachahmung

Anstoß nehmen: Der „innere Kritiker“ in mir – kennen oder haben Sie den auch in Ihrem Inneren Team? – mokiert sich: Da macht einer ein Geschäft mit dem Tod, mehr noch: mit den Toten! Aber davon erzählt die Sprecherin nichts. Und im Text ist nichts davon zu lesen, dass es „besondere Geschäfte“ sind. Im Gegenteil: Zamora und ein Mitarbeiter sind mit den Toten nach Südmarokko gefahren, haben Kleidung und Schmuck aufgehängt und so geholfen, die Toten zu identifizieren. Die Hinterbliebenen konnten Abschied nehmen, die Toten haben auf diese Weise ihre Würde zurückgekommen – was sicher mehr den Hinterbliebenen als den Verstorbenen, mehr den noch Lebenden als den Ertrunkenen dient. Anstoß? Abgehakt!

Und dann „Nachahmung“. Da gibt es auch den „Möchtegern“ in mir – in Ihnen vielleicht auch. Seine Sätze beginnen immer mit „Ich würde ja gerne…“ und fahren fort mit „aber“. Ungefähr so: Ich würde ja auch gerne helfen, aber ich bin kein Bestatter.  Und Sie wahrscheinlich auch nicht. Dennoch begegnen mir die Geflohenen, anders als bei Zamora gottseidank als Lebende. Wegschauen ist eine Möglichkeit des „Möchtegerns“, sie den „Zuständigen“ überlassen eine andere. Bloß keine Berührung zulassen, innen wie außen. Das würde mich schnell in die Pflicht rufen, etwas, wenn nicht gar alles zu geben.

Wenn Zamora mit Blick auf die Ertrunkenen sagt, in 30,40 oder 50 Jahren werde man sagen, wir seien Monster, weil wir Menschen auf diese Weise haben sterben lassen,[2] so mag ich dem „Möchtegern“ in mir dasselbe sagen, mit dem Unterschied, dass es nicht ums Sterben, sondern ums Leben geht: In 30,40 oder 50 Jahren wird man sagen, wir seien Monster, weil wir Menschen auf diese Weise haben leben lassen. Nachahmung? Abgehakt, was die Verstorbenen angeht, aber sicher nicht, was die (so) Lebenden angeht!

» So geht man mit dem Bösen um:
Man beschämt es einfach. «
Brahm, Ajahn (2018): Wie hilft der Bär beim Glücklichsein? Fragen und Antworten für den buddhistischen Weg zu einem achtsamen und erfüllten Leben, München, 74.

Zwischen Anstoß und Nachahmung: Alles geben

Ein kleines Intermezzo über eine Westerwälder Redensart (sie mag auch anderswo beheimatet sein). Ich erinnere mich an eine Geburtstagsfeier, die Freunde für mich organisierten. Ein wunderschönes Fest, und gegen Ende bemerkte eine Mitfeiernde: „Da haben die Deinen aber alles gegeben!“

Im Evangelium ist beim Opfer der Witwe die Rede vom Lebensunterhalt; sie gibt alles, was sie besaß. Den ganzen Lebensunterhalt geben – es mag Menschen geben, die Nachfolge in dieser Weise verstehen und leben, ich gehöre nicht dazu. Der Lebensunterhalt, den ich bekomme, dient eben dem Erhalt meines Lebens und dem Erhalt des Lebens derer, die zu mir gehören. Da ist viel Freiheit drin, Gott sei es gedankt.

Mir kommt eine Unterscheidung aus der ignatianischen Spiritualität in den Sinn. Wenn es um das Wort „Mehr“ geht, unterscheidet die lateinische Sprache zwischen „multum“, einem „numerischen Mehr“ – mehr Geld verdienen, mehr Tage Urlaub im Jahr usw. – und „magis“, einem „qualitativen Mehr“ – ein Mehr an Verbindlichkeit, an Zuwendung, anAufmerksamkeit, an innerer Freiheit. Für das Wort „Alles“ ist im Lateinischen aber nur „omnis“ vorgesehen.

Trotzdem: Ich glaube, für einen (nicht nur christlich) spirituellen Menschen möchte ich unterscheiden zwischen einem „numerischen Alles“ und einem „qualitativen Alles“. Beides kann und muss sogar nebeneinanderstehen. Hilfe für Menschen in Not braucht viel Numerisches, Geld, Essen, Kleidung etc. Aber notwendig, wirklich Not wendend ist ein „qualitatives Alles“: das Geschenk des Daseins füreinander, das Mitgehen und Begleiten, das Einstehen füreinander und die Wege zur Selbständigkeit im neuen Land. Ähnlich wie beim „Magis“ geschieht dies in der Tiefe der Begegnung, in der Tiefe des Zusammenseins und in der Tiefe der Begleitung.

All das passt nicht in den Opferkasten im Tempel, in den Kollektenbeutel im Gottesdienst auf den Überweisungsträger für die Caritas. Opferkasten, Kollektenbeutel und Überweisungsträger werden natürlich auch gebraucht – zum numerischen Nutzen. Aber es befreit nicht vom „qualitativen Alles“, das zu geben eben jedem und jeder in seiner und ihrer Weise angetragen wird.

» Eine schöne Definition eines erwachten Menschen: ein Mensch, der nicht mehr nach der Pfeife der Gesellschaft tanzt, ein Mensch, der zu der Musik tanzt, die aus ihm selber kommt. «
de Mello, Anthony (1992): Der springende Punkt. Wach werden und glücklich sein, 2. Aufl., Freiburg, 175.

Alles gegeben?

Sie erinnern sich: Der Bestatter Martin Zamora ist skeptisch. In 30,40 oder 50 Jahren werde man sagen, wir seien Monster, weil wir Menschen auf diese Weise haben sterben lassen.[3] Was müsste passieren, dass die Menschen in 30, 40 oder 50 Jahren sagen, wir seien wirklich Menschen gewesen, weil wir für die Menschen in Not, für die Geflohenen „alles gegeben“ hätten? Und was ist mein, was ist Ihr erster Schritt darauf hin?

Amen.

Köln, 06.11.2021
Harald Klein

[1] Der Text kann nachgelesen oder als Podcast gehört werden unter [online] https://www.kirche-im-wdr.de/startseite?tx_krrprogram_pi1%5Baction%5D=makepdf&tx_krrprogram_pi1%5Bprogramuid%5D=93168&cHash=5daeb8317be0f866bac9f24f01f7f101[05.11.21]

[2] vgl. ebd.

[3] vgl. ebd.