Das Denken in Dualismen
„Er ist wieder da!“ Nein, ich meine nicht das Buch von Timur Fermes (2012) bzw. den Film von David Wnendt (2015), in denen Adolf Hitler 69 Jahre bei bester Gesundheit wieder in Berlin auftaucht, zunächst verwirrt und orientierungslos, aber dann hochmotiviert, diesem veränderten Deutschland seine Ideologie aufzudrängen. Nein, ihn meine ich nicht, und Du ahnst es, ich meine Donald Trump, der Washington eingenommen hat. Angesichts seiner Wahlkampagne und der seiner Mitstreiterin um das Präsidialamt, Kamala Harris, angesichts der Inhalte, der Vorgeschichten und des öffentlichen Auftretens beider ist es dem aufgeklärten und vernunftbegabten Menschen nicht möglich, diesen Wahlsieg nachzuvollziehen oder auch nur irgendwie gut zu heißen. Donald Trump vs. Kamala Harris, ich bin nicht allein mit meiner Meinung, dass diese Frau nicht nur den USA, sondern auch der komplexen Weltpolitik besser getan hätte als dieser Mann.
An die Stelle „dieses Mannes“ kannst Du im Evangelium „diese Männer“ nehmen, die Schriftgelehrte, vor denen Jesus – wie in der Politik – eine große Menschenmenge warnt: „Nehmt Euch in Acht vor den Schriftgelehrten! Sie gehen gerne in langen Gewändern umher, lieben es, wenn man sie auf den Marktplätzen grüßt, und sie wollen in der Synagoge die Ehrenplätze haben. Sie fressen die Häuser Witwen auf[1] und verrichten in ihrer Scheinheiligkeit lange Gebete. Um so härter wird das Urteil sein, das sie erwartet“ (Mk 12,38b-40).
An die Stelle „dieser Frau“ kannst Du im Evangelium zumindest mit vielem guten Willen die arme Witwe nehmen, die zum Opferkasten. Jesus sitzt ihm gegenüber und schaut zu, wie die Leute Geld in den Kasten werfen. Viele Reiche kommen und geben viel. Markus erzählt: „Da kam auch eine Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein. Er rief seine Jünger zu sich und sagte: ‚Amen ich sage Euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle anderen. Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hineingeworfen; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles hergegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt‘“. (Mk12,41-44).
Mir fällt auf, dass Jesus in seinen Predigten gerne zu solchen Dualismen greift. Ein Dualismus ist eine Differenzierung von zwei sog. irreduziblen Sachverhalten, die nicht aufeinander rückführbar oder reduzierbar sind und unabhängig voneinander und nebeneinander bestehen. In der Philosophie unterscheidet man in dualistischem Sinne etwa das Sinnliche und das Intelligible, Natur und Technik, Materie und Geist oder auch Gut und Böse.
Jesu Hinweis auf die „Schriftgelehrten“ und die „arme Witwe“ im heutigen Evangelium kann als Dualismus gelesen werden; mir fallen noch andere ein, etwa der gottlose Richter vs. die arme Witwe (Lk 18,1-8), der prahlende Pharisäer vs. der reumütige Sünder (Lk 18,9-14), vielleicht auch der reiche Jüngling (Mk 10,17-22) vs. der verständige Schriftgelehrte (Mk 12,28-34) ein.
Dualismen haben die Funktion, die Welt und deren Erklärung einfach zu machen. Man redet und denkt, als sei der eine Pol „gut, angemessen, berechtigt“ und der andere Pol „schlecht, unangemessen, zu Unrecht da.“ Die eine Seite beschreibt das gottgewollte „Sein“, die andere Seite ist „Schein“ und ist des Teufels. Etwa so: Das ist gut, dies ist böse; das gehört zur hellen Seite, dies eher zur dunklen; das darfst Du, dies nicht. Oder: dies ist politisch korrekt, jenes ist politisch unkorrekt; ihn darfst Du einladen, sie nicht; Mitglieder dieser Partei dürfen auf unserer Veranstaltung reden, Mitglieder anderer Parteien nicht – man mag weder dieser unkorrekten Sprache noch den unkorrekten Menschen, erst recht nicht den unkorrekten Partien eine „Bühne“ geben. Als ginge es um ein Theater, nicht um das Leben!
Dualismen sind dumm – und damit der gefährlichere Feind des Bösen
Es mag neben den Dualismen andere Versuche geben, die Welt und deren Erklärung einfach zu machen, aber alle diese Versuche haben etwas Verbindendes: sie sind dumm! Einfachheit kann ich und kannst Du als eine Weise einüben, mit Dir selbst in Deinen Werten und Zielen umzugehen; wenn ein Zweiter oder eine Zweite dazukommt, braucht es schon Verständnis, Einigung – vielleicht kann man von einem Geist der Einfachheit reden, zu dem als Basics der Dialog, die Besonnenheit und die Urteilskraft gehören, will man „Sein“ und „Schein“ unterscheiden.
Dietrich Bonhoeffer sieht in der Dummheit den gefährlicheren Feind des Guten als das Böse. In seinen Briefen und Tagebucheintragungen aus dem Gefängnis schreibt er: „Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse lässt sich protestieren, es lässt sich bloßstellen, es lässt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurücklässt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch mit Gewalt lässt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch, und wenn sie unausweichlich sind, können sie einfach als nichtssagende Einzelfälle beiseite geschoben werden. Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden, ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht. Daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen. … Bei genauerem Zusehen zeigt sich, dass jede starke äußere Machtentfaltung, sei sie politischer oder religiöser Art einen großen Teil der Menschen mit Dummheit schlägt. … Das Wort der Bibel, das die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit sei (Sprüche 1, 7), sagt, dass die innere Befreiung des Menschen zum verantwortlichen Leben vor Gott die einzige wirkliche Überwindung der Dummheit ist.“[2]
Gegen die Dummheit sind wir wehrlos, Gründe verfangen nicht, Du und ich, wir müssen mit der Dummheit und mit den Dummen leben, und sind oft genug selbst nicht davor gefeit. Aber: Sich nicht mit Dummheit nicht mehr schlagen zu lassen, sei es in politischer oder religiöser Art von Machtentfaltung, Dein und mein Leben als innere Befreiung zum verantwortlichen Leben vor Gott „transformieren“ und so die Dummheit zu überwinden, das scheint mir auch heute das Gebot der Stunde, besser: der vergangenen Woche zu sein – und von der Frage der Regierung in Deutschland ist bisher noch kein Wort gefallen.
Ein Schritt aus der Dummheit der Dualismen: Unterscheiden zwischen Schein und Schein!
Damit könnte es für heute genug sein, aber ich mag Dich nicht stehen lassen bei der Vermutung, Dualismen seien eine Unterscheidung zwischen „Sein“ und Schein“. Philipp Stoellger, seit 2015 Lehrstuhlinhaber für Systematische Theologie, Dogmatik und Religionsphilosophie der Universität Heidelberg, schreibt in einer Sammlung unter der Überschrift „Zwischen Gott und Teufel“ einen fünfseitigen Essay unter der Überschrift „Vom Sinn und Sein des Scheins“. Das Abstract dieses Aufsatzes gebe ich Dir gerne wieder.
In wenigen Zeilen macht Stoellger klar, dass Sichtbarkeit – die der Schriftgelehrten und die der armen Witwe, die des prahlenden Pharisäers und die des reumütigen Sünders, die des reichen Jünglings und die des versständigen Schriftgelehrte, die des Donald Trump und die der Kamala Harris, ja und auch die des Olaf Scholz und die des Christian Lindner und wie sie alle heißen – immer (!) „Schein“ und niemals (!) „Sein“ zur Folge hat. Wir sehen die Welt, die Dinge, die Geschehnisse, nicht wie sie, sondern wie wir sind. Da gibt es einen Filter, der ich bin, der Du bist, und durch den jedes wahrgenommene Sein zum gefilterten Schein wird! Stoellger schreibt:
„Wenn Sichtbarkeit zum höchsten Gut wird und die Kämpfe um öffentliche Aufmerksamkeit und globale Geltung vor allem als Wettbewerb um Sichtbarkeit ausgetragen werden, ist der Schein zum ganz besonderen Wert avanciert. Wie etwas oder jemand erscheint, scheint mittlerweile allein entscheidend zu sein. Religiöse Praktiken erinnern an eine kritische Differenz, möglichst nicht zwischen Welt als Schein und Gott als Sein, sondern in der Welt zwischen Schein und Schein. Denn zum ominösen „Sein“ haben wir nur indirekt Zugang über die Differenzen von Schein und Schein. Wer sich zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und Teufel zu orientieren sucht, der muss Schein von Schein unterscheiden lernen.“[3]
Da stehen wir gerade, oder liturgisch: „Und das ist heute!“ Er ist wieder da! Ein anderer ist schon gegangen. Beim Dritten weiß man es nicht. Ein Vierter läuft sich warm. Was gerade dran ist, scheint mir, in Stoellgers Worten, „Schein von Schein zu unterscheiden“, und in Bonhoeffers Worten, uns innerlich zu befreien zu einem verantwortlichen Leben, vor Gott, vor mir selbst, vor Dir und den anderen, weil nur das die einzige wirkliche Überwindung der Dummheit ist.
Vielleicht wäre es gut, wenn wir uns dabei einander helfen. Ich glaube, wir brauchen einander.
Amen.
Köln, 09.11.2024
Harald Klein
[1] Warum muss ich hier an die Hunde und Katzen der kleinen amerikanischen Stadt Springfield denken, vgl. [online] https://www.youtube.com/watch?v=3BrCvZmSnKA [09.11.2024]
[2] Bonhoeffer, Dietrich (1998): Widerstand und Ergebung, DBW Bd. 8, hrsg. von Christian Gremmels und Eberhard und Renate Bethke in Zusammenarbeit mit Renate Tödt, Gütersloh, 26ff.
[3] vgl. [online] https://heiup.uni-heidelberg.de/journals/rupertocarola/article/view/23749/17481 [09.11.2024]