33. Sonntag im Jahreskreis – Talente: Prozess, nicht Habitus!

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Ein erstes Hinhören

Da ist mal wieder ein Evangelium, bei dem man nicht mehr hinhören muss, weil man es ach doch so genau kennt: Das Gleichnis vom anvertrauten Geld, besser bekannt als das Gleichnis von den Talenten. Und ja, alles Reden von der doppeldeutigen Bedeutung des Wortes Talent – einmal als Währung zur Zeit Jesu, dann als Fähigkeit oder Begabung in unserem Sprachraum, alles mutige Wirtschaften oder Haushalten der Diener mit den Talenten ihres Herrn, alle Angst vor der Strafe und das Eingraben des einen Talentes durch den furchtsamen Diener – all das ist so gnadenlos richtig! Nur: Wie mag es Ihnen gehen? Ich jedenfalls kann es nicht mehr hören! Ist das alles, was der Text, was Jesu Wort hier zu bieten hat?

Der Text steht an prominenter Stelle! Am kommenden Sonntag kommt das Evangelium vom Weltgericht – Sie wissen: die Schafe rechts, die Böcke links, und dann das „Was ihr dem geringsten…“, ach ja, Sie wissen es ja auch! Danach beginnt im Matthäus-Evangelium die Passion Jesu, seine Auslieferung, der Prozess, die Kreuzigung – und bei uns der Advent. So knapp vor Passion bzw. Advent also das Gleichnis von den Talenten! Das mag beim ersten Hinhören verloren gehen, aber das ist noch nicht alles!

» Immer höher, schneller, weiter,
immer höher, schneller, weiter... «
aus: Eggert, Moritz (2020): Sinfonie 999 - Number Nine, IX

Talente als Habitus

Das zweite Hinhören oder Hinschauen soll auf die Situation gehen, die dem Gleichnis zugrunde liegt. Ein Mann, der auf Reisen geht, vertraut seinen Dienern sein Vermögen an. Je nach ihren Fähigkeiten, heißt es, bekommt einer fünf, einer zwei, einer ein Talent! Hören Sie gut hin: es geht darum, dass einer weggeht und seinen Dienern sein Vermögen anvertraut!

Die Diener haben das Vermögen ihres Herrn in der Hand, in etwa so wie Pfandbriefe, Aktien, früher gab es noch den Wechsel. Das, was Sie in der Hand haben, ist handhabbar, ist Ihnen in die Hand gelegt, und Sie können es anschauen, drehen und wenden, wie Sie wollen. Es hat einen habituellen Charakter, und Sie können damit wirtschaften. So tun es die ersten beiden Diener. Der, dem fünf Talente überlassen sind, gewinnt fünf weitere hinzu. Der, dem zwei Talente überlassen sind, gewinnt zwei weitere hinzu. Doch der, dem ein Talent gegeben wurde, vergräbt es aus Angst, nicht nur, weil er es verlieren könnte, sondern auch aus Angst vor den Konsequenzen, die sein strenger Herr – denn so empfindet er ihn – dann ziehen würde. Die ersten beiden nennt der Herr dann tüchtig, treu und im Kleinen einen guten Verwalter; er überträgt ihnen eine große Aufgabe und lädt sie ein, teilzuhaben an der Freude ihres Herrn, an seiner eigenen Freude! Den letzten Diener nennt der Herr einen schlechten und faulen Diener, er wird in die äußerste Finsternis geworfen, wo er heulen und mit den Zähnen knirschen soll. Auf die Angst des Dieners geht er nicht ein, er übersieht sie,

Zwischenbericht I: Wenn Sie Talente als „Habitus“ verstehen, als Besitz oder als Fähigkeiten, die Ihnen gegeben sind, haben nicht Sie die Talente, sondern umgekehrt: die Talente haben Sie! Es ist letztlich Ihr Job, dafür zu sorgen, dass zu den fünf Talenten noch fünf weitere dazu kommen, und nur dieses Steigern im „multum“, in der Menge, im Horizontalen, verschafft Ihnen Ansehen und Lebendigkeit. Talente, verstanden als Habitus, habe Angst im Gefolge, vor allem die, nicht zu genügen. Das „Komm, nimm teil an der Freude deines Herrn!“ wird zur stressigen Aufgabe. Malen Sie sich das Leben derer aus, die so leben, und überlegen Sie gut, ob das kein Zufall ist, dass dieses Gleichnis bei Matthäus so knapp vor der Passion steht!

» Man muss die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit finden, um als Mensch wirklich leben zu können. «
Drewermann, Eugen (1993): Auferstanden aus der Angst. Eugen Drewermann im Gespräch mit Eike Christian Hirsch, in: der. (Hrsg.): Wort des Heils - Wort der Heilung, Bd. 4, Düsseldorf, 177.

Talente als Prozess

Im zweiten Hinhören geht es um den Begriff des Vermögens, den der Mann, der auf Reisen geht, den Dienern anvertraut. Es geht nicht um das, was Sie in der Hand haben, was Sie „handhaben“ können. Es geht um das, was (und um die, die) für Sie den Reichtum Ihres Lebens darstellen. An Leben reich werden Sie nicht durch Anhäufung von Vermögen und Talenten, durch Übung Ihrer Ihnen zugewachsenen Fähigkeiten, durch (entschuldigen Sie die Platitude) durch 500 Freund*innen auf Facebook oder einer ebenso hohen Zahl an Followern bei Instagram. Das ist Leben auf der Ebene des „multum“, das ist – so würde es die Spiritualität des Buddhismus ausdrücken – „Anhaften“ und „Festhalten“, was unweigerlich zu Leiden führt!

Um aus dem Leben auf der Ebene des „multum“ zu einem Leben auf der Ebene des „magis“ zu kommen, braucht es nicht viel. Sie müssen nur dieses Anhaften und dieses Festhalten lassen, Sie müssen dabei auf die quantitativeAnhäufung verzichten und sich mehr qualitativ ausrichten, auf das, was mehr Leben und Lebendigkeit verspricht. Und das Moment für Moment, als eine Lebensmaxime.

Zwischenbericht II: Wenn Sie Talente als „Prozess“ verstehen, als Wachsein im Augenblick für das, was (und für den/die, der/die) gerade da ist, und wenn Sie das im Gegensatz zum dritten Diener angstfrei tun, dann hören Sie auf zu zählen (quantitativ) und werden zu einem Menschen, auf den man zählen kann (qualitativ). Sie wechseln vom „multum“ zum „magis“, und beides heißt „viel“ (genießen Sie die Doppeldeutigkeit dieses Satzes)!

» Wenn einige die Welt verlassen müssen,
um sie zu finden,
so müssen andre in die Welt hineintauchen,
um sich emporzuschwingen
mit ihr
zum gleichen Himmel. «
aus: Madeleine Delbrêl: Die Liturgie der Außenseiter, in: dies.: Gott einen Ort sichern, hg. von Annette Schlenker, Kevelaer 2007, 134ff.

„Komm, nimm teil an der Freude Deines Herrn“

Talent als Prozess statt als Habitus verstehen heißt, sich in der Lebensführung auf ein einziges habituelles Talent zu verlassen: Wach und achtsam sein zu können und zu wollen für das, was im Augenblick geschieht, für die, die im Augenblick da sind. Und dann mit allem, was in Ihnen war, in Ihnen ist und in Ihnen noch kommen wird, Antwort zu geben in Wort und Tat, in den Prozessen Ihres Lebens die Ihnen innewohnenden Talente ihren Dienst tun lassen.

Jesus beginnt das Gleichnis mit den Worten „Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Mann, der auf Reisen ging“. Vom „Anvertrauen“ und vom „Vermögen“ ist die Rede. Es könnte sein, dass das sowohl auf dieser Reise als auch im Warten und Ausharren die „Freude Deines Herrn“ gesucht und gefunden werden kann, Moment für Moment, und dass diese Suche genau die Teilhabe an der Freude des Herrn ist. Sie können es ausprobieren. Jetzt. In diesem Moment und im nächsten Moment.

Amen.

Köln, 16.11.2023
Harald Klein