33. Sonntag im Jahreskreis – Wenn (m)eine Welt zusammenbricht…

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Gestern und Heute

Ich schreibe diese Predigt an dem Tag, an dem in den USA die sog. Midterms, die Zwischenwahlen für den Senat und das Repräsentantenhaus ausgewählt werden. Die spannende Frage ist, welche Macht dabei den Republikanern und damit in zwei Jahren bei der Präsidentschaftswahl dem ehemaligen Präsidenten Donald Trump zukommen wird. Die USA sind weit weg, und doch könnte die Entscheidung bedrohlich werden. – Der Westen regt sich auf, weil der Iran Russland Drohnen zum Einsatz im Krieg gegen die Ukraine zusichert, ist aber voll der Überzeugung, dass seine Waffenlieferungen an die Ukraine sicher folgenlos und weithin anerkannt bleibt. – Nach Teilen des Hamburger Hafens hat gestern die Bundesregierung die Übernehme einer Chip-Fabrik in Dortmund verboten; weitergehende Abhängigkeiten von unsicheren und schwierigen Ländern sollen nicht mehr geschaffen werden. – Gestern wurde ich von meinem Stromlieferanten informiert, dass meine Abschläge sich in den kommenden drei Monaten um 100 % erhöhen werden.

Apokalyptische Zeit(en) – Apokalyptische Reiter

Wir leben in apokalyptischen Zeiten. Im religiösen Sprachgebrauch sind Apokalypsen Schriften, die sich anhand von Träumen, Visionen, Reden und Weissagungen mit dem kommenden Ende der Welt befassen. Übersetzt heißt der aus der griechischen Sprache stammende Fachbegriff „Enthüllung“ – es geht dabei sowohl um die Vorzeichen des Weltendes als auch um eine Beschreibung dessen, wie dieses Ende aussehen wird.

Es kommt nicht unangekündigt. In Offb 6,1-8 beschreibt der Seher Johannes im letzten Buch des Neuen Testamentes vier sog. „Apokalyptische Reiter“, die nach Gottes Willen das Ende der Welt und der Zeit ankündigen sollen. Folgt man dem Theologen Nils Neumann, können die vier Apokalyptischen Reiter nur deswegen auf der Erde wirken, weil Gott es ihnen erlaubt und ihre Ankunft initiiert hat. Sie haben ihren Ursprung weder im Himmel noch in der Hölle, sondern sind Personifikationen irdischer Mächte, die das Land der Menschen bedrohen.[1]

Die bildende Kunst, allen voran Albrecht Dürer im 15. Jahrhundert, hat diese vier Apokalyptischen Reiter identifiziert mit Kampf und Sieg, mit Krieg, mit Lebensmittelknappheit und mit Verteuerung von Waren. Nehme ich die Kunst und die Theologie als Referenzrahmen zum Deuten der Gegenwart, wird der 09.11.2022 zu einem Tag (in) der Apokalypse[2]. Das galt auch gestern, es wird morgen gelten – und wo es hingehen wird, wage ich nicht auszudenken, es ist schwer, die Haltung der Hoffnung anzunehmen.

» Wie fühlt ein Mensch, der (s)eine Welt zusammenbrechen sieht? [...] Die Kernfrage lautet: Was bedeutet es, wenn Jesus wissentlich und willentlich in den Tod geht, und wie dann leben inmit-ten einer Welt, die einen Mann wie ihn ermordet? Von Anfang an erhält das gesamte apokalyptische Untergangsszenario die Bedeutung einer symbolischen Vorwegnahme der Hinrichtung Jesu: Mit ihm stirbt alles. – Was also muss zusammenbrechen, auf dass aus Tod Leben entsteht? «
Drewermann, Eugen (2009): Das Lukasevangelium Bd.2: Bilder erinnerter Zukunft, Düsseldorf, 683f.

Wenn (m)eine Welt zusammenbricht

In der Apokalypse des Lukas-Evangeliums (vgl. Lk 21,5-36), aus dem der heutige Evangelientext entnommen ist, thematisiert Jesus die Endzeit als die Zeit, in der kein Stein auf dem anderen bleiben wird. Er antwortet mit diesem Bild auf das Staunen der Junger über die Schönheit des Tempels – gleichzeitig gelten seine Worte über das „Gegenständliche“ hinaus dem „Universellen“ der Welt und dem „Persönlichen“ seines und Ihres Lebens. Apokalypsen sind Zeit-Zustände, die ein wesentliches „Etwas“ in meiner Welt, die „meine Welt“ als Ganze und die „mein ganz persönliches Leben“ meinen.

Wie die Jünger es sicher taten, so würde auch ich Jesus gerne fragen: „Und, Jesus, was rätst du mir, wenn meine Welt zusammenbricht?“ Mit den – zugegeben: überschaubaren – Apokalypsen meines Lebens lese ich das Evangelium und höre Jesus zu.

» Die Welt ist aus den Fugen, ja; und es sprichts nichts dafür, dass wir die Möglichkeit besäßen, sie zusammenzuflicken. Doch darauf kommt es letztlich nicht an. Das einzige, was wirklich zählt, besteht darin, an Jesu Seite sich selbst durchzuhalten. «
Drewermann, Eugen (2009): Das Lukasevangelium Bd.2: Bilder erinnerter Zukunft, Düsseldorf, 695.

Drei Worte Jesu in die Apokalyptische Zeit

Das erste Wort, das bei mir hängen bleibt, ist: „Gib acht, dass man Dich nicht in die Irre führt!“ (Lk 21,8). Zum einen erlebe ich die vier Apokalyptischen Reiter um mich herum, Kampf und Streit, Krieg, Hungersnot, Teuerung – zum anderen bestehe ich darin gerade mein Leben. Angst geschieht im Kopf, das Leben kann ohne sie auskommen. Ich höre: „Lass Dich leiten von Tatsachen, von guten Ideen und Projekten, nicht von der Angst, das will sich durchsetzen.“

Das zweite Wort, das bei mir hängen bleibt, ist: „Dann wirst Du Zeugnis ablegen können.“ (Lk 21,13). Im Wohlstands- und Kulturchristentum ist gut leben! Es sind diese Situationen der Unsicherheit, der Offenheit, des Verlustes und der Angst, in denen mein Vertrauen in Gott, in Christus gefragt ist. Ganz gleich, ob etwas Wesentliches in meiner Welt, ob meine Welt als Ganze oder ob ich selbst als „meine Welt“ bedroht bin: „Die Welt ist aus den Fugen, ja; und es spricht nichts dafür, dass wir die Möglichkeit besäßen, sie zusammenzuflicken. Doch darauf kommt es letztlich nicht an. Das einzige, was wirklich zählt, besteht darin, an Jesu Seite sich selbst durchzuhalten.“[3] Man beachte das „sich selbst durchzuhalten“ – Drewermann setzt keinen Appell an ein „Durchhalten“! Ich lese das Wörtchen „mich selbst durchzuhalten“ als Erinnerung an eine „Haltung“, der ich auch in Zeiten des Zusammenbruchs treu bleibe und zu der ich zurückkehren kann, mit Jesus an meiner Seite.

Das dritte Wort, das bei mir hängen bleibt, ist: „Wenn Du standhaft bleibst, wirst Du das Leben gewinnen.“ (Lk 21,19). Dieses „standhaft“ löst so vieles aus in mir. Aufrecht, aufrichtig stehen und bestehen können im Leben; Halt suchen und – Gott sei‘s gedankt – finden bei Menschen, die mich halten, wenn ich zu fallen drohe; alles dafür tun, dass das Vertrauen, nicht das Misstrauen das letzte Wort behält in so vielem; aus den vielen Konjunktiven wie „könnte“, „möchte“, „müsste“ immer wieder in den Indikativ kommen. Eugen Drewermann sagt dazu: „Darin, dass dieses ‚würde‘ endlich ein ‚werde‘ würde, erblickte Jesus das Indiz dafür, dass wirklich Gott (und nicht der ‚Teufel‘) in unseren Herzen zu herrschen beginnt.“[4]

» Doch damit es dahin kommt, gilt es, alle Äußerlichkeiten aus der Religion zu entfernen: Der Einsturz des ‚Tempels‘ ist die Grundvoraussetzung, um in ein inneres, vertrauensvolles Verhältnis zu Gott zu gelangen. Je ferner und fremder die Gottheit den Menschen gerückt wird, desto höher und himmelstürmender wachsen die Kathedralen empor. Gott aber gewinnt Gestalt in jeder Gebärde der Güte, und er steht auf im Aufbegehren gegen jede Form organisierter Gewalt. «
Drewermann, Eugen (2009): Das Lukasevangelium Bd.2: Bilder erinnerter Zukunft, Düsseldorf, 688.

Abgrundtiefes Vertrauen

In apokalyptischen Zeiten brechen die „Religionen des Äußeren“ und der Äußerlichkeiten weg – wir erfahren das gerade in der deutschen Kirchenkrise. Die gewachsenen und gewordenen Formen kirchlichen Christentums haben kaum noch Prägekraft. Häufig werden sie – das erste Wort – als Irreführung auf der Suche nach einem Glaubensweg erlebt. Formen des Wohlstands- und des Kulturchristentums werden aufrechterhalten – da ist nichts dagegen zu sagen, St. Martin, Adventsmusik und ein Weihnachtsoratorium sind Kulturleistungen, die ich gerne annehme; nur: sie helfen mir nicht, zumindest nicht nachhaltig, in apokalyptischen Zeiten „an der Seite Jesu mich durchzuhalten“ – das zweite Wort. Da ist der persönliche Bund mit Jesus Christus gefragt, mein Mich-Binden an ihn. Die verordnete Form eines Gottdesdienstes oder das ausgelegte Wort des Evangeliums durch einen theologisch mehr oder (spirituell) weniger (aus- oder ein)gebildeten Prediger kann das sicher nicht ersetzen, es bleibt „äußerlich“.[5]

Letztlich hilft nur ein – im wahrsten Sinne des Wortes – abgrundtiefes Vertrauen, darauf, dass ich unterscheiden kann und nicht in die Irre gehe; dass ich mich immer wieder aufmache, um „den Jesus an meiner Seite“ zu spüren, um mich an dieser Stelle durchzuhalten; dass ich standhaft bleibe in meiner Menschlichkeit, die ihr Maß an Jesus Christus nimmt. Ist Eugen Drewermanns Folgerung wohl eher optimistisch oder eher pessimistisch zu verstehen? Es schreibt: „Doch damit es dahin kommt, gilt es, alle Äußerlichkeiten aus der Religion zu entfernen: Der Einsturz des ‚Tempels‘ ist die Grundvoraussetzung, um in ein inneres, vertrauensvolles Verhältnis zu Gott zu gelangen. Je ferner und fremder die Gottheit den Menschen gerückt wird, desto höher und himmelstürmender wachsen die Kathedralen empor. Gott aber gewinnt Gestalt in jeder Gebärde der Güte, und er steht auf im Aufbegehren gegen jede Form organisierter Gewalt.“[6]

Die drei Worte nehme ich mit in die neue Woche: „Gib acht, dass man Dich nicht in die Irre führt!“ – „Dann wirst Du Zeugnis ablegen können.“ – „Wenn Du standhaft bleibst, wirst Du das Leben gewinnen.“ Ich wünschte mir, sie könnten wirklich Trostworte werden in einer apokalyptischen Zeit.

Amen.

Köln 09.11.2022
Harald Klein

[1] vgl. [online] https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2022/03/wer-waren-die-reiter-der-apokalypse [09.11.2022]

[2] Es soll nur in einer Fußnote erwähnt werden, dass der 09.11. der Tag der sog. Reichspogromnacht ist, der Tag, an dem 1938 von NS-Regime organisiert und gelenkte Gewaltmaßnahmen gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, deren Synagogen und Geschäfts- bzw. Wohnhäuser stattfanden.

[3] Drewermann, Eugen (2009): Das Lukas-Evangelium. Bilder erinnerter Zukunft, Bd. 2, Düsseldorf, 694f.

[4] a.a.O., 688.

[5] Mir ist klar, dass ich mir hier gerade selber das Wasser abgrabe – daher das Bekenntnis, dass ich in erster Linie immer mir selber predige, mag diesen Graben überbrücken von mir zu Ihnen.

[6] Drewermann, Eugen (2009): Das Lukas-Evangelium. Bilder erinnerter Zukunft, Bd. 2, Düsseldorf, 688.