Eine Geschichte von Abkehr – Einkehr – Umkehr
Heute wird eines der Top-Ten-Evangelien zu Gehör gebracht. Es geht um den „verlorenen Sohn“ oder – von der anderen Seite gesehen – um den „barmherzigen Vater“. Mit 32 Versen ist es eines der längsten Evangelien, die in den Gottesdiensten gelesen werden. Wenn Du willst, kannst Du es hier nachlesen.[1]
Das Gleichnis beginnt mit einer Abkehr. Der jüngere von zwei Söhnen fordert sein Erbteil, wer will dem Vater, dem Bruder, dem bisherigen Leben den Rücken kehren. Widerspruchslos teilt der Vater das Erbteil unter den beiden auf. Kurze Zeit später zieht der jüngere Sohn in ein fernes Land. Es hat etwas von „nichts wie weg“, von Abschied oder Verabschiedung ist im Gleichnis keine Rede.
Damit beginnt seine Abkehr von der Familie, von seiner Herkunft und der dazugehörenden Geschichte. Der jüngere Sohn durchlebt aber auch eine Abkehr von seinen bisherigen Werten und Zielen, von der Selbstkultivierung seines Lebens. Vom zügellosen Leben ist die Rede, vom verschleuderten Vermögen, von der Not, die er während einer Hungersnot litt. Das geht so weit, dass er gerne seinen Hunger mit den Futterschoten stillen würde, die die Schweine fressen.
Die Mitte des Evangeliums – auch von der Zahl der Verse her – bildet der Moment der Einkehr, die in der Erfahrung seines Elends ihre Wurzel hat: „Da ging er in sich und sagte: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot im Überfluss, ich aber komme hier vor Hunger um. Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner Tagelöhner“ (Lk 15,17-19).
Das Evangelium erzählt nach dieser Einkehr des jüngeren Sohnes die Geschichte seiner Umkehr, aber auch die der Umkehr des Vaters und des älteren Bruders und die neuen Verhältnisse, die nach der Abkehr und durch die Einkehr und die Umkehr begonnen haben, für alle Beteiligten wohlgemerkt.
Der Verzicht
In der Askese der Zukunft
Die aus keiner Religion kommt
Und keinem System dient
Geht es nicht ums Verzichten
Es geht darum zu erkennen
Wie wenig ich brauche «
Der Moment zur Umkehr – eine Phönix-Erfahrung
Die Einkehr ist der Moment, in der die Abkehr endet und die Umkehr beginnt. Eine Schnittstelle zwischen Altem bzw. Vergehendem und Neuem bzw. Entstehendem. In den Metaphern von Anne Vonjahrs „Phönixerfahrung“[2] ereignen sich in diesem Moment der Einkehr drei von sechs Schritten der Phönixerfahrung: Der erste Schritt beschreibt die große Vorbereitung: Wenn der Phönix spürt, dass seine Zeit gekommen ist, trägt er die wertvollsten Materialien zusammen, um sein Nest zu bauen und sich auf das Ende vorzubereiten. Im zweiten Schritt erlaubt der Phönix den Sonnenstrahlen, sein Nest in Brand zu setzen. Der dritte Schritt beschreibt den Zerfall des Phönix zu Asche.
Im Evangelium wäre der erste Schritt das In-sich-Gehen des „verlorenen Sohnes“, der zweite Schritt der Wille zum Aufbruch zurück zum Vater, der alles Neue hinter sich lässt, und der dritte Schritt der angezielte Wechsel vom „Sohn“ zum Tagelöhner“. M.a.W.: Der „Sohn“ zerfällt zu Asche.
Die ganze Geschichte vom verlorenen Sohn und vom barmherzigen Vater wäre dahin, würde es nicht diesen Moment der Einkehr („Da ging er in sich…“) geben, in dem sich der jüngere Sohn (übrigens später auch der Vater und der ältere Sohn in ihren Momenten der Einkehr) abkehrt vom Bisherigen und umkehrt zum Neuen – auch wenn es am alten Ort ist.
Hier geht es nicht um Religion! Wenn in einer religiösen Sprache von Umkehr die Rede ist, dann mag es sein, dass damit die Hinwendung zur Lehre angesprochen wird – etwa die Frage nach der Gottessohnschaft Jesu und was sie für dich bedeutet.
Hier geht es auch nicht um Frömmigkeit! Wenn in einer frommen Sprache von Umkehr die Rede ist, dann mag es sein, dass es um Vollzüge, oft in Gemeinschaft, manchmal allein, geht, z.B. der Besuch der Gottesdienste oder das Wiederbeleben einer eigenen Gebetspraxis.
Hier geht es um Spiritualität! Wenn in einer spirituellen Sprache von Umkehr die Rede ist, dann ist wirkliche Transformation gemeint. Nicht ein wenig mehr hiervon und ein wenig weniger davon, kein Weitermachen das Bisherigen unter anderen Vorzeichen, sondern Verbrennen des „Nestes“ mit allem, was dir wertvoll ist, weil du merkst, dass es nicht mehr trägt und dass es dir – wie Asche – durch die Finger rinnt. Der vierte Schritt der Phönix-Erfahrung ist die logische Folge des dritten Schrittes: Nachdem der Phönix zu Asche zerfällt, stirbt er. Das unterscheidet Umbau von Transformation: es geht nicht um Neuanstrich, Vergrößern oder Verkleinern des Bisherigen, nicht um „anders werden“. Transformation meint eine völlige Aufgabe des Bisherigen, um neu zu sein und um ein Neuer, zu werden, um neu zu wirken. „ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem Tagelöhner“, will der Verlorene bei seiner Rückkehr zu seinem Vater sagen. Er kann nicht ahnen, dass es anders kommen wird.
Er löst sich vom Unwichtigen
Sein ‚Verzicht‘ ist eine Befreiung «
Und daraus erhebt sich neues Leben
Das Ziel der Umkehr ist in spiritueller Hinsicht nicht das Lassen, sondern das Finden. Der fünfte Schritt der Phönixerfahrung ist die Geburt des neuen Phönix, der sechste und letzte Schritt beschreibt das neue Leben des Phönix, der seine Flügel ausbreitet. So endet auch das Evangelium: „Man muss doch ein Fest feiern und sich freuen; denn dieser, dein Bruder war tot und lebet wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden“ (Lk 15,32).
Umkehr heißt, hinter sich lassen, was war, heißt es von der Sonne samt Nest verbrennen lassen, und (Achtung: doppelsinniges Wort!) aufbrechen in der Hoffnung zu finden, was Leben wirklich ausmacht – zumindest für die kommende Zeit in deinem Leben.
Die ersten Zeilen des „Stundenbuchs“ von John von Düffel sprechen von Askese, ich nehme diesen Begriff als eine Umschreibung dessen, was Umkehr meint. Er schreibt:
„Das größte Missverständnis der Askese ist
Der Verzicht
In der Askese der Zukunft
Die aus keiner Religion kommt
Und keinem System dient
Geht es nicht ums Verzichten
Es geht darum zu erkennen
Wie wenig ich brauche
Was brauche ich wirklich
Askese in wenigen Worten
Ist die Übung der Konzentration auf das Wesentliche
Eine Verständigung mit sich
Über die Frage
Woraus es ankommt
Das Wenige
Ist die Methode
Um das Wesentliche zu erkennen
Wenn das Wenige dem Wesentlichen entspricht
Ist das Glück“[3]
So viel für heute – und für die Woche.
Köln, 27.03.2025
Harald Klein
[1] Du musst dann die Seite herunterscrollen bis nach den beiden Lesungen, dann findest du das Evangelium.
[2] vgl. Vonjahr, Anne (2023): Die Phönixerfahrung. Wie du auf einer magischen Reise deine Schatten heilst und dein wahres Selbst erkennst, München, hier: 54-59.
[3] von Düffel, John (2024): Das Wenige und das Wesentliche. Ein Stundenbuch, Köln, 7.