4. Sonntag der Osterzeit: Ulla Hahn – Alles haben

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Der Grundton: Zitat aus dem Tagesevangelium

Der Dieb
kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten.
Ich bin gekommen,
damit sie das Leben haben
und es in Fülle haben.

Joh 10,10

Die Terz: Ein lyrischer Konnex

Ulla Hahn: Alles haben

Angst wir bald alles haben
in Zügen Flugzeugen Straßencafés
bei Nacht und Tag und
den Stunden dazwischen Angst
wird bald alles haben die Jungen
die Alten die Heißen die Kalten
an meinem Finger der Ring
in der Stimme das Wort: Angst
wird bald alles haben Löwe und Laus
die Bösen die Guten Gesunde
und Kranke Sterben Gebären
Kinder und Katzen
dumm und schlau arm und reich
Begräbnis und Auferstehen: Die Angst
wird bald alles haben.
Sie sitzt auf der Bank im Park
in der Sonne im Schatten im Kochtopf
organisiert Konferenzen Kongresse
tritt in Talk Shows auf in den Bergen
im Wasser verwaltet die Akten stempelt
Leben zum Todeszellenpapier drückt auf die Tube
der Arbeitslosen wühlt sich in ihre Bezüge ein
nistet unter Tischen und Stühlen brütet
in Kniekehlen Büchern Gazetten die Angst
wird bald alles haben.
Sie geht nabelfrei narbenfrei geht
nie zu Ende die Angst
wird bald alles haben.
Spiegel Bilder und Spiegelbilder
die Leichen im Keller und die auf den
Feldern Schlachten und Märchen die
Angst wird bald alles haben
Fakten und Silberpfeifen
Farben und Töne die Höhle
in diesem Mund. Sie hat
meine Stimme und deine,
die von nebenan sie hat alle
Stimmen in Stadt Land und Fluss
Nichtsnutze und Weise die Angst
wird bald alles haben. Manna
frisst sie und die Wärme der Wörter
das Licht aus den Kronen der Bäume
Unsere Küsse wird sie erzwingen
unsere kleinen Wege ums
Wasser unsere Geschichten und
die der anderen jeden Ball
den wir zu ihr zu werfen versuchen
fängt sie in ihren Begräbnisarmen.
Die Angst wird bald alles haben. Auch
den Mut zur Angst vor
der Angst die Angst wird
bald alles haben die Angst
die Segel zu setzen
die Angst wird bald alles haben
auch
unsere Angst vor dem Wind
vor Angst
wird sie bald alles haben die
Angst     alles nur
keine Angst.

Aus: Hahn, Ulla (2013): Gesammelte Gedichte, München, 685f.

Die Quint: Was ins Klingen kommt

Bleib-Bitte

gehetzt sein und
gehetzt werden

die angst wird und
sie wird bald alles haben
was ICH bin
was MICH ausmacht
die angst macht MICH aus

mehr und mehr
bin ich mut los
die angst hat ihn
eingenommen
den mut hat sie
angenommen

die angst
will stehlen will schlachten will vernichten

du bist da und
dein dasein
lockt den blick weg
von der angst

die angst bleibt

aber du
bist auch
bleib – bitte

Köln, 26.04.2023
Harald Klein