4. Sonntag im Jahreskreis – Die Achsen der Resonanz

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Aufruhr in Nazareth!

Zuschauer von Serien im Fernsehen kennen das. Die heutige Folge schließt an, etwa an die direkt vorangegangene Folge, oder auch an Geschehnisse, die schon viele Folgen davor gezeigt wurden. Um als Zuschauende „anschlussfähig“ zu bleiben, heißt es dann zu Beginn z.B.: „Bisher bei Hawaii 5.0.“ – oder, ins Komödienhafte gebracht, die Erinnerung an die großartige Evelyn Hamann und ihre „Englische Ansage“ über die Geschehnisse auf dem Landsitz North Cothelstone Hall von Lord und Lady Hesketh-Fortescue…

„Bisher in Lk 4“ – so gelesen am letzten Sonntag – kommt Jesus in seiner Heimatstadt in die Synagoge, man reicht ihm eine Schriftrolle, er liest die Ankündigung des Messias aus dem Propheten Jesaja und sagt: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört hat, erfüllt.“

Und da setzt die heutige Folge, das heutige Evangelium an: Großes Erstaunen über die „Worte der Gnade, die aus seinem Mund hervorgingen“, und dann Verwunderung: „Ist das nicht Josefs Sohn?“ – Ist das nicht einer von uns, und der redet so von oben herab mit uns? Jesus deckt ihre Reaktion auf: Kein Prophet werde in seiner Heimat anerkannt. Auf Erstaunen und Verletztheit folgen Wut und Zorn: „Sie trieben Jesus zur Stadt hinaus und brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem die Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen.“

So sieht die Antwort der Zuhörenden in Nazareths Synagoge auf das Auftreten Jesu aus: Erstaunen über den Inhalt, Verwunderung über den Sprechenden, Wut dem gegenüber, der sie augenscheinlich beleidigt, und Zorn, der zum Vertreiben, fast zum Töten geneigt ist.

» Es geht um den Grad an Verbundenheit mit
und die Offenheit gegenüber
anderen Menschen (und Dingen). «
vgl. Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., Berlin, 53f.

Resonanz als Grad der Verbundenheit und Offenheit

In den Predigten bis zum Aschermittwoch soll der Resonanz-Begriff des Soziologen Harmut Rosa so etwas wie eine Lesebrille für die aktuelle Deutung der Evangelien sein. Dem Begriff, der Definition Rosas von „Resonanz“ möchte ich mich dabei Schritt für Schritt annähern. Hartmut Rosa schreibt einführend: „Es geht um den Grad an Verbundenheit mit die Offenheit gegenüber anderen Menschen und Dingen.“[1] Es geht um Verbundenheit und Offenheit – daher ist Resonanz zwar auch, aber deutlich mehr als eine Emotion, ein Gefühl, geschweige denn „nur“ ein Wohlfühl-Gefühl.

» In der kurzen Passage zur Funktion des Ritus habe ich [...] vorgeschlagen, mindestens drei Dimensionen der Welt- und damit der Resonanzbeziehung zu unterscheiden, nämlich eine horizontale Dimension, welche die sozialen Beziehungen zu anderen Menschen, also etwa Freundschaften oder Intimbeziehungen, oder auch politische Beziehungen umfasst, eine (etwas umständlich) als diagonal bezeichnete Dimension der Beziehungen zur Dingwelt und schließlich die Dimension der Beziehung zur Welt, zum Dasein oder zum Leben als Ganzem, also zur Welt als einer Totalität, die wir als vertikale Dimension bestimmen können, weil das empfundene Gegenüber dabei als über das Individuum hinausgehend erfahren wird. In vertikalen Resonanzerfahrungen erhält gewissermaßen die Welt selbst eine Stimme. «
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., Berlin, 331.

Resonanz auf drei Achsen

Diesen Grad an Verbundenheit und Offenheit – oder eben auch an Ablehnung und Verschlossenheit – finden Sie sehr schön im Evangelium. Hartmut Rosa unterscheidet drei „Achsen“ der Resonanz bzw. der Resonanzbeziehung.[2] (1) In der horizontalen Dimension begegnen sich Menschen auf Augenhöhe, in Freundschaften und in intimen Beziehungen. So etwa, wenn Jesus, einer von ihnen, der Sohn Josefs, die Synagoge betritt. Da schlägt das Herz höher, da darf man gespannt sein. (2) In der diagonalen Dimension schauen Menschen auf etwas oder jemanden herab oder schauen auf zu jemandem oder etwas, was der „Dingwelt“ angehört, oder sie sind diesen Dingen gegenüber gleichgültig. So etwa, wenn Jesus aus dem Propheten Jesaja liest; es hätte auch ein anderer Text sein können, der Ritus der Synagoge sieht angereichte Schriftrolle, Vorlesen und Auslegung vor. Erst geht es um den bekannten Text, und dann um das, was der Deutende wohl Neues sagt. (2) in der vertikalen Dimension ist das empfundene Gegenüber „größer“, übersteigt den Menschen und die Dimension des Menschlichen; so könnte etwa der „Wille Gottes“, „die Kirche“, „die Schrift“, „das Brauchtum“ hier eine eigene Stimme bekommen. So etwa, wenn auf Jesu „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt“ das Staunen kommt, das sicher schon das Vorzeichen der Verärgerung trägt, die Wut, die sie Jesus zur Stadt heraustreiben lässt und der Zorn, in dem sie ihn den Abhang hinunterstürzen wollen.

» Resonanz ist kein emotionaler Zustand, sondern ein Beziehungsmodus. Dieser ist gegenüber dem emotionalen Inhalt neutral. Daher können wir traurige Geschichten lieben. «
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., Berlin, 298.

Resonanz: Etwas zum Klingen bringen – und es andere hören lassen!

Das erste, dass ich aus diesem Sonntagsevangelium mitnehme, ist die Frage, mit wem oder mit was ich in welcher „Dimension“ gerade in Resonanzbeziehung bin – verbunden mit der Frage, welcher Art diese Resonanz ist, in welche Beziehung zur Welt mich diese Resonanzbeziehung führt. Und ob ich da etwas verändern mag, zu verändern bereit bin. Diese Frage scheinen sich die Menschen in Nazareth nicht gestellt zu haben – und einige Jahre später wird diese Frage auch an den Menschen in Jerusalem im Blick auf Jesu keine Rolle spielen.

In spiritueller Hinsicht: (1) welche Begegnungen in der horizontalen sind förderlich für meine Weltbeziehungen? (2) welche Beschäftigungen, Geschehnisse oder „Dinge in der diagonalen Dimension fördern meine Weltbeziehung, meine Weltaneignung? (3) Welche mich übersteigenden, transzendierenden „Größen“ fördern, welche verhindern mein aufrechtes Stehen, Gehen und Handeln vor mir selbst, in der Welt, vor dem, der oder das mir „Gott“ ist?

» Grundlage der Individualisierung des Glaubens wird [...] ein neuer Grundsatz, der sich so formulieren lässt: Es gibt in religiösen Fragen keine Wahrheit außer der persönlichen, die man sich selbst erarbeitet hat. «
Beck, Ulrich (2008): Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt/Main, 119.

Der resonante Jesus

„Bisher bei Hawaii 5.0.“ war der Einstieg – und bisher haben wir das Evangelium bis zu dem Punkt betrachtet, an dem die vorher erstaunten Zuhörenden Jesus aus der Stadt trieben, um ihn den Abhang hinabzustürzen. Die heutige Folge spielt am Abhang, und sie wird von Lukas mit einem einzigen Vers beschrieben: „Er aber schritt mitten durch sie hindurch und ging weg.“

Das ist das Zweite, was ich aus dem Sonntagsevangelium mitnehme: Es scheint, als habe Jesus klar gehabt, was auf horizontaler, diagonaler und vertikaler Dimension oder Resonanzachse für ihn in dieser „Folge“ dran sei. Er war in einer guten Resonanzbeziehung zu all dem und zu all denen, die um ihn herum waren, und gerade das, das Schwere in dieser Resonanz, war der Antrieb, dass er mitten durch sie hindurch weggehen konnte, weil es eben seiner Weltbeziehung nicht dienlich war. Mit anderen Worten: Etwas und jemanden hinter sich lassen kann aus der Art und Weise, wie man Resonanz erfährt, das Gebot der Stunde sein.

Amen.

Köln 28.01.2022
Harald Klein

[1] vgl. Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., 53f.

[2] vgl. a.a.O., 331: „In der kurzen Passage zur Funktion des Ritus habe ich […] vorgeschlagen, mindestens drei Dimensionen der Welt- und damit der Resonanzbeziehung zu unterscheiden, nämlich eine horizontale Dimension, welche die sozialen Beziehungen zu anderen Menschen, also etwa Freundschaften oder Intimbeziehungen, oder auch politische Beziehungen umfasst, eine (etwas umständlich) als diagonal bezeichnete Dimension der Beziehungen zur Dingwelt und schließlich die Dimension der Beziehung zur Welt, zum Dasein oder zum Leben als Ganzem, also zur Welt als einer Totalität, die wir als vertikale Dimension bestimmen können, weil das empfundene Gegenüber dabei als über das Individuum hinausgehend erfahren wird. In vertikalen Resonanzerfahrungen erhält gewissermaßen die Welt selbst eine Stimme.“