02. Sonntag der Osterzeit – Der verzweifelte Thomas, oder: „Draußen vor der Tür I“

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„Draußen vor der Tür“

Irgendwann zwischen Herbst 1946 und Januar 1947 schreibt der 26jährige Kriegsheimkehrer Wolfgang Borchert in seiner Heimatstadt Hamburg in nur acht Tagen sein wohl berühmtestes Werk, das Theaterstück „Draußen vor der Tür“. Einen Tag vor der Uraufführung auf der Bühne – vorher war es als Hörspiel vertont worden – stirbt Borchert am 20. November 1947.

Beckmann, im Drama stets ohne Vornamen bleibend, ist der Protagonist des Dramas. Er wird von Borchert als „Einer von denen“ im Text vorgestellt. Vom Kriege geschädigt, beinahe zerstört, kommt als Kriegsheimkehrer nach dreijähriger russischer Gefangenschaft in der „Stunde Null“ in seiner Heimatstadt an, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Alle Auftretenden sind namenlos, werden anhand ihrer Tätigkeiten oder Wesenszüge umschrieben, und sind somit austauschbar. Da ist z.B. „der Andere, den jeder kennt“, der so etwas wie die hoffende Seite im verzweifelten Beckmann verkörpert; oder „der Beerdigungsunternehmer mit dem Schluckauf“, der sich als personifizierter Tod herausstellt, und sein Gegenspieler, „der alte Mann, an den keiner mehr glaubt“, unschwer als Personifizierung Gottes zu erkennen.

Beckmann sucht Antworten bei den Menschen, die er vor dem Krieg kannte, zum Teil liebte. Wie konnte es dazu kommen, dass die Menschen nicht mehr an Gott glaubten, und dass der Tod ihr neuer Gott geworden sei? Er will sich in der Elbe das Leben nehmen, diese – ebenfalls personifiziert – speit ihn in Blankenese an Land, er dürfe erst wiederkommen, wenn er wirklich am Ende sei.

Um es kurz zu machen: Zeichen der Hoffnung und Erfahrung der Hoffnungslosigkeit wechseln sich ab, nichts ist mehr, wie es war, und nichts wird so werden, wie es war. Das Stück endet tragisch und offen, Beckmann wacht aus einem Traum auf und ruft:

„Wo bist du jetzt, Jasager? Jetzt antworte mir! Jetzt brauche ich dich, Antworter! Wo bist du denn? Du bist ja plötzlich nicht mehr da! Wo bist du, Antworter, wo bist du, der mir den Tod nicht gönnte? Wo ist denn der alte Mann, der sich Gott nennt? Warum redet er denn nicht?
Gebt doch Antwort!
Warum schweigt ihr denn? Warum?
Gibt denn keiner Antwort?
Gibt keiner Antwort???
Gibt denn keiner, keiner Antwort???

» Osterglaube und Ostererfahrung (Glaube und sein Grund) sind schon bei Jesu Jüngern voneinander unlöslich: der Grund des Glaubens (der Auferstandene) wird erst als glaubensgründend im Glauben selbst machtvoll und zwingend erfahren. «
Rahner, Karl: Art. „Auferstehung Jesu“, in: ders. (Hrsg.) (1967): Sacramentum mundi. Theologisches Lexikon für die Praxis, Bd. 1, Freiburg, 416-420.

Zusammen sein bei verschlossenen Türen

Gerade nicht „draußen vor der Tür“ spielt sich die Erzählung vom „ungläubigen Thomas“ ab, die jährlich zum Oktavtag des Ostersonntags gelesen wird. Die Erzählung setzt ein mit „Am Abend des ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus…“  Weiter unten heißt es dann: „Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drinnen versammelt, und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch!“

Legen Sie doch einmal das Drama von Wolfgang Borchert und seinen „Beckmann“ neben die Erzählung aus dem Johannesevangelium mit seinem „Thomas“. Das erste, was mich fasziniert, ist, dass Thomas bei der ersten Erscheinung des Auferstandenen nicht bei denen hinter der verschlossenen Tür war, er war „draußen vor der Tür“, am Ort der Aufruhr, der Verfolgung, des Todes, dort, wo allem Anschein nach jetzt „die Juden“ das Sagen haben. Was ist mit seiner Furcht? Hat er sich ihr gestellt? Sucht er nach Antworten eben draußen, vor der Tür, so wie Beckmann? Mehr noch: Können die letzten Worte Beckmanns nicht auch die Worte des Thomas „da draußen“ sein:

„Wo ist denn der alte Mann, der sich Gott nennt? Warum redet er denn nicht?
Gebt doch Antwort!
Warum schweigt ihr denn? Warum?
Gibt denn keiner Antwort?
Gibt keiner Antwort???
Gibt denn keiner, keiner Antwort???“

Dann: Ich stelle ihn mir vor, wie er zurück zu den anderen Jüngern – die Frauen werden wohl auch dabei gewesen sein – zurückkam. Ob es ein Klopfzeichen gab, auf das hin man ihn einließ? Wie mag die Stimmung im Raum gewesen sein? Schließlich war den anderen doch gerade der Herr, der Auferstandene erschienen. Auch das ist eine Frage und ein Spiel Ihrer Fantasie wert: Wie mag die Stimmung, die Atmosphäre hinter der verschlossenen Türgewesen sein, vor, während und nach der Begegnung mit dem Auferstandenen, und wie können die „da drinnen“ dem, der „draußen vor der Tür“ war, diese Stimmung, dieses Erleben vermitteln?

» Im Falle von Ostern ist es anders. Diese Erfahrung ist aus der Natur der Sache heraus sui generis. Denn die Erfahrung eines Jenseitigen, der sich ‚zeigen‘ muss, unserer Raumzeitlichkeit nicht mehr angehört, einem Zugriff von unserer Seite nicht von vornherein schutzlos offensteht, ist gewiss kein Ereignis, das wir aus unserer Erfahrung her ‚verstehen‘, in seinen Möglichkeiten und Voraussetzungen von uns her schon übersehen, so dass wir von uns aus die alltäglichen Kriterien verwenden könnten zur Beurteilung der Frage, ob wir, als hier und jetzt geschehen und erlebt, es akzeptieren können. «
Rahner, Karl: Art. „Auferstehung Jesu“, in: ders. (Hrsg.) (1967): Sacramentum mundi. Theologisches Lexikon für die Praxis, Bd. 1, Freiburg, 416-420.

Die Rolle der glaubwürdigen Zeugen

In Köln gibt es eine Redewendung, die ich sehr mag: „Du kannst mir alles sagen, aber verzähl mir nix!“ Ich glaube, so wird es dem Thomas gegangen sein. Karl Rahner spricht von einer „Erfahrung sui generis“, einer Erfahrung eigener Art, eine einzigartige Erfahrung, die keiner kennt oder vergleichen kann. Um etwas erkennen, verstehen, einordnen zu können, braucht Thomas, brauchen Sie und ich Vergleichspunkte, brauchen wir etwas Ähnliches. Die Verzweiflung des Beckmann in Borcherts Drama liegt darin, dass er seine Welt, seine Heimatstadt, seine Beziehungen und Freundschaften nicht mehr wiedererkennt. Die Verzweiflung (und nicht der Zweifel!) des Thomas liegt darin, dass er mit dem Begriff der „Auferstehung“ und der „Begegnung mit dem Auferstandenen“ nichts anfangen kann – was ich gut verstehen kann, Sie auch? Bei dieser „Erfahrung sui generis“ helfen nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich glaube denen, die sie mir bezeugen – also denen, die hinter der verschlossenen Tür ausharrten. Oder ich mache die Erfahrung (!) selbst, und zwar egal, wo: „Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht!“ Wieder: Ich kann den Thomas gut verstehen, Sie auch? Die hinter den verschlossenen Türen scheinen ihm keine glaubwürdigen Zeugen zu sein. Und was ist heute mit den „glaubwürdigen Zeugen“ und der „Glaubwürdigkeit der Zeugen“? Wohl denen, die solche Menschen kennen, auf deren Zeugnis man trauen und bauen kann.

» Es ist hier ja zweifellos anders, als wenn uns ein zuverlässiger und ehrlicher Zeuge berichtet, er habe z.B. jemanden ins Wasser springen sehen. In einem solchen Fall ist uns die Möglichkeit einer solchen Erfahrung bekannt und verständlich. Und darum vermittelt der Bericht des Augenzeugen ein Verhältnis zum berichteten Vorgang, das die aus demselben Grund ebenso verstehbare Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit des Zeugen überspringen kann und gewissermaßen unmittelbar zum Ereignis wird. «
Rahner, Karl: Art. „Auferstehung Jesu“, in: ders. (Hrsg.) (1967): Sacramentum mundi. Theologisches Lexikon für die Praxis, Bd. 1, Freiburg, 416-420.

Thomas erfährt den Auferstandenen

Sie kennen den Schluss der Erzählung vom verzweifelten Thomas. Anders als bei Beckmann wird sein verzweifeltes Rufen erhört – Borcherts Stilmittel zeigen die Verzweiflung: zuerst die Frage: „Gibt denn keiner Antwort?“ Dann die Frage verkürzt, aber intensiviert durch drei Interpunktionen: „Gibt keiner Antwort???“ Und schließlich die Frage einem verdoppelten „keiner“ und den drei Interpunktionen: „Gibt denn keiner, keiner Antwort???“ So stelle ich mir den verzweifelten Thomas vor. Dann kommt hinter – wiederum hinter verschlossener Tür – der Auferstandene: „Steck deine Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und lege sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ Nirgends steht, dass er das Angebot des Auferstandenen annimmt! Thomas antwortete ihm und sagt: „Mein Herr und mein Gott!“

» Nur der Hoffende kann die Erfüllung der Hoffnung sehen, und an der gesehenen Erfüllung kommt die Hoffnung in die Ruhe ihrer eigenen Existenz. Dieser ‚Zirkel‘ braucht und kann nicht aufgesprengt werden. Aber der zur Hoffnung der ’Auferstehung‘ seines Fleisches (das er ist, nicht das er nur ‚hat‘) Aufgerufene kann durch Gottes Gnade in diesen Zirkel hineinspringen. «
Rahner, Karl: Art. „Auferstehung Jesu“, in: ders. (Hrsg.) (1967): Sacramentum mundi. Theologisches Lexikon für die Praxis, Bd. 1, Freiburg, 416-420.

Brot, Wort und Umarmung – „Zirkelworte“

Es waren drei Worte, die uns die heiligen drei Tage erschlossen haben: Brot, Wort und Umarmung. Brot bleibt Brot, Wort bleibt Wort, Umarmung bleibt Umarmung, und all das ist schon viel, ist schon genug, um zu leben. Um sie zu deuten in Zeichen der Gegenwart es Auferstandenen, um in des Thomas‘ „Mein Herr und mein Gott“ einzustimmen, müssen Sie, so sagt Karl Rahner, in einen Zirkel einsteigen, den ihnen glaubwürdige Zeugen oder eigene Erfahrung und deren Deutung öffnet. Zu dem „Mein Herr und mein Gott!“ des Thomas können Sie nur gelangen, wenn Sie annehmen, dass es diesen auferstandenen Herrn und Gott gibt – anders können Sie den Auferstandenen als „Erfahrung sui generis“ nicht erkennen. Und: Hierbei geht es zum einen um eine Annahme in Ihrer Vorstellung-, Erfahrungs- und Deutungswelt, zum anderen um eine Annahme im Sinne eine Übernahme in und für Ihr Leben. Nur so kann ich des Auferstandenen letztes Wort verstehen: „Weil du mich gesehen hast, glaubst du! Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ Borcherts Beckmann war da draußen vor der Tür zu einer solchen Deutung nicht fähig, und er ist nicht allein damit. Es kann auf Dauer nicht gut sein, die Tür verschlossen zu halten und sich vor den Wogen der Welt und vor den Menschen zu verschanzen. Die Versuchung ist groß. Beckmanns Ruf am Ende des Dramas kann uns durch die Osterzeit geleiten und wachhalten:

„Wo ist denn der alte Mann, der sich Gott nennt? Warum redet er denn nicht?
Gebt doch Antwort!
Warum schweigt ihr denn? Warum?
Gibt denn keiner Antwort?
Gibt keiner Antwort???
Gibt denn keiner, keiner Antwort???“

Damit eine Antwort hörbar, sichtbar, erfahrbar wird, müssen die Jünger die verschlossene Tür öffnen und hinausgehen. Aber das dauert noch eine Weile! Und das immer wieder!

Amen.

Köln 10.04.2021
Harald Klein