Am Heiligen Ort
Wenn Sie die Augen schließen, können Sie mit ein wenig Fantasie Jesus vom Ölberg kommend durch die Senke und dann auf den Tempelberg in Jerusalem in den Tempel hineingehen sehen. „Alles Volk“ kam zu ihm in den Tempel, und Jesus setzt sich und lehrt. Nochmal: Wenn Sie die Augen schließen – lassen Sie Ihren inneren Blick, Ihr inneres Auge mal über „alles Volk“ gleiten. Damit das Evangelium, damit die Frohbotschaft (von) der Ehebrecherin ins heute gelangen kann, setzen Sie sich doch einfach mal zum Volk dazu, und nehmen Sie links und rechts, vor und hinter Ihnen die Menschen, die so zu Ihrem Leben gehören. Lassen Sie uns „Gleichzeitige“ werde, als wären Sie, ich, wir zusammen mit Jesus da im Tempel, mit dabei, so, als geschehe all das hier und heute. Ein bisschen, wie es Mose von Gott am Dornbusch zu hören bekam: „Der Ort, wo Du (hier und jetzt) stehst, ist heiliger Boden!“ (vgl. Ex 3,5)
» Die Fehler sind bekannt: Ich hab sie längst begangen
Schuld oder Unschuld trifft mich ganz allein
Ich bin auf meinen eigenen Leim gegangen
Ich fiel auf keinen als mich selber rein.
Was ich auch tue macht die Fehler schwerer
die Fehler machen bald mein Leben aus
Ich bin in diesem Leben eingefangen
ich komme nicht aus meiner Haut hinaus
die narbenstrotzend an mir klebt und knittert
und mit den Jahren deutlicher verwest
Ich bin die einzige die vor mir zittert
ich weiß dass niemand mich von mir erlöst «
Die Frohbotschaft (von) der Ehebrecherin
Sollte Ihnen die Geschichte nicht bekannt sein, können Sie sie bei Joh 8,1-11 nachlesen. Hier nur ein paar kurze Punkte. Es sind die Schriftgelehrten und die Pharisäer, die eine Frau zu Jesus bringen – die genaue Zahl ist nicht bekannt, können Sie sich mit mir auf 8-10 einigen? Das ist ein wenig wie bei der Konzelebration am Altar: ein Zelebrant, 8-10 Konzelebranten! Und dann natürlich „alles Volk“, das gekommen ist, um zu hören, um zu sehen. Da sind Sie dabei, und da sind auch die Ihren mit dabei, vergessen Sie das nicht. Und irgendwo verloren eine Frau, die sich erst abgeführt, dann Jesus als Richter zugeführt und vor allen anderen vorgeführt fühlen muss.
Dieses Abführen, Zuführen, Vorführen hat nur ein einziges Ziel: Die Verurteilung. Die Hoffnung der alten Männer, die ja doch immer Opfer, niemals aber Täter der Verführung sein wollen, ist die Steinigung, ist der Tod der Frau, die sie als Sünderin bezeichnen. Und wenn Jesus dies ablehnt, können sie ihn abführen, ihn dem Richter zuführen, ihn dem Volk als Verräter vorführen, würde er sich doch dadurch gegen das „Gesetz“ stellen.
Und dann bückt sich Jesus zweimal – ich lese das „zweimal“ in diesem Jahr bewusst zum ersten Mal – schreibt sein den Sand, wie der Gott Israels sein Gesetz dem Mose am Sinai in Stein gemeißelt hat. „Alles Volk“, was diese Geste des Schreibens in den Sand gleich zweimal sieht, mag fragen was das soll. Aber vielleicht nimmt das Volk auch wahr, das Jesus schlichtweg „zu Boden“ geht, sich „bückt“, sich klein macht.
Es ist, als wäre ihm die Wucht, die die alten Männer und deren Gesetz mitbringen, einfach zu groß, als könne er sie und die Ansprüche, die damit verbunden sind, nicht tragen. Jesus geht zu Boden. Die Unbarmherzigkeit, die Hartnäckigkeit, die Falschheit, die Selbstlüge und der Selbstbetrug, der da angesichts der Ehebrecherin auf ihn einstürzt, zwingt ihn in die Knie, wirft ihn um. Wieviel Unrechtgeschichte bringen diese Männer da wohl mit? Die Rolle der eigentlichen „Sünderin“ wirkt verschwindend klein in diesem Geschehen. Wie mag „allem Volk“ auf ihren Plätzen gehen, angesichts der alten Männer, der Ehebrecherin und dem gebückten und in den Staub schreibenden Jesus?
Dann steht er auf, stellt sich auf, stellt sich all den alten Männern und all dem, was sie vorbringen, entgegen: der Unbarmherzigkeit, der Hartnäckigkeit, der Falschheit, der Selbstlüge und dem Selbstbetrug, der da angesichts der alten Männer auf ihn einstürzt. Jeden Einzelnen und die versammelte Gemeinschaft der heiligen Männer spricht er an: „Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ernsten Stein!“ Und nach diesem Satz geht er wieder, geht ein zweites Mal zu Boden. Es ist, als könne er in der Gegenwart dieser Männer nicht aufrecht stehen.
„Alles Volk“ erlebt jetzt den stillen, aber großen Auszug der Pharisäer und Schriftgelehrten. Letztlich hat Jesus den Spieß umgedreht: Er hat sie allem Volk und der Ehebrecherin gegenüber vorgeführt, er führt sie zur Unbarmherzigkeit und zur Kälte des Gesetzes, und letztlich fühlen Sie sich aus dem Tempel abgeführt, abgewiesen. Sie gehen, still, vielleicht auch beschämt – wohl, weil sie so vorgeführt wurden.
wofür uns Weise tadeln könnten. «
Der „zweite Aufstand“
Jesus blieb – neben „allem Volk“ – allein zurück, erzählt das Evangelium, mit der Frau, die in der Mitte stand. Er richtete sich – ein zweites Mal – auf und fragte: „Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt?“ Sie antwortete: „Keiner, Herr.“ Da sagte Jesus zu ihr: „Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr.“ (Joh 8,10f)
Ob es einen spürbaren Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten „Aufstand“ gab? „Alles Volk“ bekommt das mit, hört und sieht das. Sie sitzen mittendrin, ich auch. Mir geht durch den Kopf, dass durch den ganzen – der Kölner sagt – „Driss“ in meinem Leben manch einer wie Jesus zu Boden geht, aber ich selbst ja auch. Je mehr ich abgeführt, zugeführt, vorgeführt werde, je mehr ich verurteilt werde, desto mehr gehe ich zu Boden. Es ist beinahe gleichgültig, ob es andere sind oder ob es ich selbst bin, der mich verurteilt. Gesegnet seien die Momente, die mich dann wieder aufstehen lassen, die mich diejenigen und dasjenige, das mich verurteil, in den Blick nehmen lässt. Gesegnet seien die Momente, in denen mir, einem Gedicht von Ulla Hahn zum Trotz – eine Erlösung von mir selbst zuteilwird.
Diese Momente schenken Erlösung, dennoch führen sie aus dem Hamsterrad der Verurteilung nicht heraus. Es braucht, wenn ich dann wieder (und wieder) auf dem Boden liege, einen „zweiten Aufstand“. Das ist nicht eine numerisch-quantitative Kategorie, sondern eine spirituell-qualitative Kategorie. So wie Jesus vor der Ehebrecherin stehe ich vor meinem, Du vor Deinem und Sie vor Ihrem Leben und hören den Satz Jesu: „Ich verurteile Dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr.“ Das ist – nach der Scham über die eigene Geschichte – der zweite Aufstand im eigenen leben: Aufstehen und den Blick neu nach vorn lenken – aufstehen und gehen im Wissen, nicht verurteilt zu sein und mich nicht verurteilen zu müssen.
Wer den Frieden des Geistes als Ziel seines Lebens anerkennt – so sagt es die Lehrrede des Buddha über die Liebende Güte – der achte darauf, dass es auch nicht im Kleinsten ein Vergehen gebe, wofür uns Weise tadeln könnten. Das ist der Blick, das Handeln nach außen. Das ist das Gehen nach dem zweiten Aufstand. Ich möchte mit der Erfahrung Jesu vor der Ehebrecherin ergänzen: der achte auch darauf, dass er immer wieder aufsteht, und der höre auf, sich zu verurteilen oder andere, fast den Stein schon werfend, zu verurteilen.
Der Ort, wo Du, wo Sie, wo ich jetzt stehe – dieser Ort ist heiliger Boden. Hier gilt es aufzustehen, loszugehen, sich freudig und lustvoll zu mühen, dass es nicht im Kleinsten ein Vergehen gebe, wofür uns Weise tadeln können. Damit dieses Gehen gelingt, muss ich mir das, was auch war, abschneiden lassen, und darf keinen von denen, die mit mir gehen, festbinden an das, was sie zu Boden drückt. Selbst aufstehen, aufstehen helfen, nicht verurteilen und dann losgehen – das ist das Finale des Evangeliums der Ehebrecherin.
Amen.
Köln 30.03.2022
Harald Klein