5. Sonntag im Jahreskreis – Umfassende Steigerungsprozesse?

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Jesus nimmt Fahrt auf

Die vier Evangelien sind vier „Frohbotschaften“, so die Übersetzung des aus dem Griechischen stammenden Wortes, bekommen Sie als Besucher*innen des Gottesdienstes nur in ausgesuchten Stückwerken zu hören. Die Liturgen haben sich dieser Aufgabe angenommen – schade, dass vielen verlorengeht, was zwischen der sogenannten Bahnenlesung liegt.

In den beiden zurückliegenden Sonntagen trat Jesus in Nazareth auf; die Einheitsübersetzung setzt als Überschrift über die Episode in Nazareth „Jesus beginnt zu predigen“ und stellt Jesus als Lehrenden dar; der Höhepunkt dieses „Beginns“ bildet die Episode in der Synagoge in Nazareth und die verschiedenen Formen der Resonanz, die er dort erfährt: Erstaunen, Verwunderung, Zorn und Wut.

Heute sind wir ein Kapitel weiter: Jetzt nimmt Jesus, nimmt seine Verkündigung Fahrt auf. Von Nazareth geht es ins auf dem kürzesten Weg 50 km entfernte Kafarnaum am See Genezareth. Zwischen dem Evangelium des letzten Sonntags und dem heutigen Evangelium liegt die Heilung eines Besessenen, die Heilung der einen Schwiegermutter des Petrus, dann die Heilung vieler Kranken, die die „Leute“ zu Jesus brachten. Von dort bricht Jesus auf, verlässt Judäa und geht an den See Genezareth nach Galiläa.

Nehmen Sie bitte die Entwicklung wahr: einige zuhörende Männer in der Synagoge von Galiläa, die Heilung einesBesessenen, die Heilung der einen Schwiegermutter des Petrus, und dann die Heilung der vielen Kranken, die alle möglichen Leiden hatten. Merken Sie’s? Da war erst die reine Predigt, das Wort, dann folgte die Heilung, die Tat an einzelnen, und dann die Heilung an den vielen. Verkündigung/Predigt – Heilung der einzelnen – Heilung der vielen: Jesus nimmt Fahrt auf.

» Beschleunigung [...] habe ich in meiner letzten Monografie als Mengenwachstum pro Zeiteinheit definiert, und dies macht bereits deutlich, dass wir es mit umfassenden Steigerungsprozessen zu tun haben. «
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., Berlin, 13.

Umfassende Steigerungsprozesse in Jesu Verkündigung

Das, was in diesen ersten Kapiteln von und über Jesus erzählt wird, zieht sich durch das ganze Evangelium des Lukas. Es werden immer mehr Menschen, immer mehr Schichten, bis hin zu den römischen Besatzern, die wie besessen sind nach Predigt/Verkündigung, nach Wundern, nach Heilung einzelner oder nach Heilung ganzer Gruppen, ja sogar nach Heilung politischer Strukturen.

In Hartmut Rosas „Soziologie der Weltbeziehung“ definiert er dieses Phänomen des „immer mehr“ als Beschleunigung. „Beschleunigung […] habe ich in meiner letzten Monografie als Mengenwachstum pro Zeiteinheitdefiniert, und dies macht bereits deutlich, dass wir es mit umfassenden Steigerungsprozessen zu tun haben.“[1] Das Leben Jesu, seine Verkündigung, seine Heilungen beschleunigen sich. In dieser Hinsicht erklärt sich das heutige Evangelium

Man kann es gar nicht anders: sowohl die Menge der Menschen am Ufer, die die Verkündigung Jesu, die seine Predigt hören wollen zu Beginn des Evangeliums als auch die große Menge Fische, die das Netz zu zerreißen drohen und die auf das Wort Jesu an Petrus „Fahr hinaus, wo es tief ist“ als umfassende Steigerungsprozesse zu deuten. Rosa spricht vom „Mengenwachstum pro Zeiteinheit“ – hier haben Sie es schwarz auf weiß: Jesus und seine Verkündigung, seine Predigt nehmen Fahrt auf, Jesus „beschleunigt“.

» Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung. «
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., Berlin, 13.

Zwei Sätze, die die Beschleunigung über den Haufen wirft

Aber: Die Größe „Mengenwachstum pro Zeiteinheit“, die Beschleunigung im Leben allein mag die Oberfläche, die Oberflächlichkeit des Lebens befriedigen, in der Tiefe des Lebens, in der Weise der Weltbeziehung und der Weltaneignung  wird sie kaum jemanden ernsthaft berühren.

Vorweggenommen sei, dass ich mich an eine Exerzitienbetrachtung erinnere. Gehen Sie doch einmal in die Figur des Simon. Da taucht dieser Jesus auf, gefolgt von einer Menge Menschen, die ihn bedrängen, um das Wort Gottes, um seine Verkündigung zu hören. Jesus steigt in dessen Boot, bittet ihn, ein Stück vom Land wegzufahren – dann stellt er sich ins Boot und lehrt das Volk. Simon (noch heißt er nicht Petrus) sitzt ihm zu Füßen, beobachtet, hört ihn, all seine Sinne sind auf ihn gerichtet. Was passiert da zwischen Simon und Jesus? Da wird so etwas wie ein „vibrierender Draht[2] zwischen Jesus und Simon gespannt. Dieser Draht findet seinen Ausdruck im kurzen Dialog Jesu mit Simon: „Fahr hinaus, wo es tief ist, und werft das Netz noch einmal aus.“ – „Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen. Doch auf dein Wort hin werde ich die Netze auswerfen.“ Das Ende dieser Ausfahrt in die Tiefe, der reiche Fischfang, sei hier nur noch einmal kurz erwähnt. Wichtiger ist die Berufung von Simon, Johannes und Jakobus in de Jüngerschaft, die Gefährtenschaft Jesu: Und sie zogen die Boote ans Land, verließen alles und folgten ihm nach.“

„Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung. Das ist die auf die kürzest mögliche Formel gebrachte Kernthese dieses Buches“[3], mit diesen Worten beginnt Hartmut Rosas Buch zur Resonanz. Es ist dieser „vibrierende Draht“ zwischen den beiden, die zunächst vielleicht interpersonal von Bedeutung sind und schließlich Simon, Jakobus und Johannes in die Jüngerschaft, die Gefährtenschaft Jesu führen. Und bei aller Kritik an Kirche, man kann nun nicht sagen, dass diese Resonanz bei der Interpersonalität zwischen Jesus und den Dreien stehen geblieben sei.

» [...] eine Soziologie der Weltbeziehung. Die zentrale Frage, was ein gutes von einem weniger guten Leben unterscheidet, lässt sich dann übersetzen in die Frage nach dem Unterschied zwischen gelingenden und misslingenden Weltbeziehungen. Wann gelingt Leben, wann misslingt es, wenn wir es nicht an Ressourcen und Optionen messen wollen? «
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., Berlin, 19f.

Was Resonanz zu leisten vermag

Die neue Einheitsübersetzung hat einen dummen Übersetzungsfehler korrigiert. Hieß es in alten Ausgaben des Lukasevangeliums, dass Jesus gesagt habe: „Fahr auf den See!“, übersetzt die neue Einheitsübersetzung diesen Zuspruch Jesu, auf Latein „Duc in altum“, mit „Fahr hinaus, wo es tief ist.“

Wenn „Beschleunigung“ als umfassender Steigerungsprozess, als Mengenwachstum pro Zeiteinheit verstanden wird, ist das Entdecken von Resonanz und das Handeln aus ihr heraus an die Stelle des (sich-) Messens von Ressourcen und Optionen für ein gelingendes Leben wesentlich. „Die zentrale Frage, was ein gutes von einem weniger guten Leben unterscheidet, lässt sich dann übersetzen in die Frage nach dem Unterschied zwischen gelingenden und misslingenden Weltbeziehungen. Wann gelingt Leben, wann misslingt es, wenn wir es nicht an Ressourcen und Optionen messen wollen?“[4]

Was würde Jesus antworten, was Simon, Johannes und Jakobus, und natürlich auch was würde Martha, Maria und Maria Magdalena antworten?

Wir werden sehen.

Amen.

Köln 05.02.2022
Harald Klein

[1] Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., Berlin, 13.

[2] a.a.O., 24f.

[3] a.a.O., 13.

[4] a.a.O., 19f.