6. Sonntag der Osterzeit – Sein Wort halten, oder: Das Erbe Jesu leben

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Die Mail aus Südamerika

Haben Sie heute schon Ihren Mail-Account geöffnet? Gab es Post aus Südamerika? Wenn nicht heute oder gestern, dann lassen Sie es ein Viertel- oder ein halbes Jahr her sein, aber ich bin mir sicher, dass Sie und ich schon von einem „gemeinsamen Bekannten“ aus Südamerika Post bekommen haben: Es geht um den „Anwalt“, der für einen uns unbekannten, aber doch irgendwie in Lateinamerika existiert habenden „Verwandten“ informiert, dass wir eine Erbschaft von eben diesem Verwandten gemacht hätten, und der mich (oder Sie) bittet, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Bislang konnte ich es umgehen, aber ein wenig gespannt bin ich schon, was wohl geschieht, wenn ich den entsprechenden Link anklicke.

Wenn es denn wirklich ein seriöses Anschreiben wäre, gehörte es für den Anwalt (als „Lohnknecht“ meines Verwandten) zu seiner Aufgabe, mir (oder Ihnen) das als Erbe weiterzugeben, was mein (oder Ihr) verstorbener Verwandter mir (oder ihnen) hinterlassen hat, ein Haus in Montevideo, die Schürfrechte einer Mine oder was auch immer. Er wird genau dafür bezahlt und gibt sein Wort dafür, dass er den Willen, das „Wort“ des Verwandten übermittelt und für den Verwandten einsteht. Er steht „zu Diensten“. Ich komme später darauf zurück.

» Tatsächlich wird hier kein einziges Gebot erwähnt, auch nicht eines, und das kann doch nur heißen, dass es im Sinne Jesu kein inhaltlich fixierbares Gebot gibt, sondern dass, wer liebt, den Inhalt aller möglichen Gebote bereits in sich trägt; und umgekehrt: dass ein bestimmtes Wissen, was der andere braucht oder möchte, für den, der ein Liebender ist, immer schon besteht. «
Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Zweiter Teil, Düsseldorf, 136f.

Für Jesu Wort einstehen

Jetzt zum Evangelium: Das 14. Kapitel im Johannesevangelium ist der Beginn der Abschiedsreden Jesu, in denen Jesus nicht nur sein Leben zusammenfasst, sondern auch das, was die Exegeten seine „Lehre“ und die anderen Theologen seine „Moral“ nennen. Die Abschiedsreden bilden so etwas wie ein Vademecum, eine Wegzehrung auf dem Weg, den die Jünger – und später die Kirche – nähren soll, wenn sie ihren Weg nach Jesu Tod ohne den leibhaftigen Jesus unter und neben ihnen gehen.

Wie schön, dass dies in einem einzigen Satz geschieht: „Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten; mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und bei ihm Wohnung nehmen.“ Ist das nicht toll?! Da gibt es keine Aufzählung von 613 Ge- und Verboten, die das jüdische Gesetz ausmachen; noch nicht mal auf die (nur) Zehn Gebote wird hingewiesen. Schlicht heißt es: „Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten.“

Eugen Drewermann schreibt zu dieser Perikope in seinem Kommentar zum Johannes-Evangelium: „Tatsächlich wird hier kein einziges Gebot erwähnt, auch nicht eines, und das kann doch nur heißen, dass es im Sinne Jesu kein inhaltlich fixierbares Gebot gibt, sondern dass, wer liebt, den Inhalt aller möglichen Gebote bereits in sich trägt; und umgekehrt: dass ein bestimmtes Wissen, was der andere braucht oder möchte, für den, der ein Liebender ist, immer schon besteht.“[1]

M.a.W.: Jesus zu lieben heißt nichts anderes als ein liebender Mensch zu sein (zugegeben, als ob das nicht schon schwer genug sein kann). Liebender Mensch sein ist das Vademecum, ist die Wegweisung für die Jünger (und für Sie und mich).

» Niemand betrüge oder verachte einen anderen.
Aus Ärger und Übelwollen wünsche man keinem
irgendwelches Unglück. «
Khema, Ayya (2014): Nicht so viel denken, mehr lieben, Buddha und Jesus im Dialog, Uttenbühl, 4. Aufl., 11.

Welches Wort?

Aber nun weiter: Der Streit über diese Aussage könnte da anfangen, wo zu entscheiden ist, was denn das „Wort Jesu“ sei, das man halten müsse, und wer das denn entscheiden darf. Die „Gesammelten Worte“ bilden unseren Katechismus! Hilfreich ist das nicht! Vielleicht gilt, dass das Wort Jesu, das am umfassendsten ist, gemeint sei – im Unterschied zu einzelnen Ge- oder Verboten, die sowieso nur rar in der Verkündigung Jesu, aber um so mehr im Katechismus zu finden sind. Vielleicht genügt der Rückgriff auf die implizite Aussage, der Mensch habe – wie Jesus auch – Gemeinschaft mit Gott. Gemäß dieser Aussage lebt Jesus, leidet er, stirbt er. Gemäß dieser Aussage kann er den Jüngern – zum Ende des heutigen Evangeliums – mitgeben: „Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht. Ihr habt gehört, dass ich zu Euch sagte: Ich gehe fort und komme wieder zu Euch. Wenn Ihr mich liebtet, würdet Ihr Euch freuen, dass ich zum Vater gehe; denn der Vater ist größer als ich. Jetzt schon habe ich es Euch gesagt, bevor es geschieht, damit Ihr, wenn es geschieht, zum Glauben kommt.“

M.a.W.: So, wie die Verbindung mit anderen Menschen in Partnerschaft und Freundschaft Kraft, Halt, Sicherheit gibt, so wie all das meinem Leben Gestalt gibt, so ist es auch mit der Verbindung zu Gott, die – um meinetwillen! – gepflegt sein will. Der Dreiklang der Nächsten-, der Gottes- und der Selbstliebe klingt hier deutlich durch!

Noch einmal Eugen Drewermann: „Deswegen braucht das Johannes-Evangelium an dieser Stelle keinen einzigen Inhalt der ‚Gebote‘ einzufügen. Die Liebe ist der einzige Hinweis, Anweis, Verweis und Ausweis; nur Ausweisung und Abweisung vereinbaren sich mit ihr niemals; aus ihr ergibt sich vielmehr der Inbegriff aller ‚Weisungen‘: Weisheit.“[2]

Die Lehrrede des Buddha über die Liebende Güte gibt denen, die in liebender Güte leben und den Frieden des Herzens als Ziel ihres Lebens erkannt haben (und so das Wort Jesu halten, ohne ihn vielleicht zu kennen,) als innere Haltung mit auf den Weg: „Aus Ärger und Übelwollen wünsche man keinem irgendwelches Unglück.“[3]

» Auf ähnliche Weise wird Jesus ‚zurückkommen‘ wie ein geistiges Geschenk, nicht als Vermächtnis, das man von außen lernt und formelhaft nachspricht, sondern ganz im Gegenteil als etwas, das von innen her mit dem eigenen Leben verschmilzt. «
Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Zweiter Teil, Düsseldorf, 143.

Die Wiederkunft erwarten

Ein Letztes: Jesus sagt hier zu Beginn der Abschiedsreden, dass er wieder zu den Seinen käme: „Ihr habt gehört, dass ich zu Euch sagte: Ich gehe fort und komme wieder zu Euch. Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht.“

Das Warten macht mürbe, beunruhigt das Herz und führt ins Verzagen. Es ist ein Warten auf einen, der von außen kommt – und da können Sie und ich lange warten. Da haben die Jünger lange gewartet. Eugen Drewermann führt aus: „Es wird Jesus wiederkommen, verheißt er, allerdings nicht so, wie sie ihn kannten: äußerlich fühlbar, sinnlich wahrnehmbar, als Erfahrung in Raum und Zeit; der Tod verändert alles, und es wäre ein falsches Versprechen, diese Art der ‚Wiederkehr‘ sich als eine Rückkehr ins Alte, ins Gewesene vorzustellen.“[4]

Später konkretisiert er: „Auf ähnliche Weise wird Jesus ‚zurückkommen‘ wie ein geistiges Geschenk, nicht als Vermächtnis, das man von außen lernt und formelhaft nachspricht, sondern ganz im Gegenteil als etwas, das von innen her mit dem eigenen Leben verschmilzt.“[5]

Die Wiederkunft Jesu geschieht in Ihnen, wenn sein Wort mit Ihrem eigenen Leben verschmilzt. Sie geschieht durchSie, wenn Sie unverzagt und furchtlos mitten in der Welt mit den Ihren und zu den Ihren gehen und zu ihnen stehen. Sie geschieht an Ihnen, wenn Sie mit Menschen zu tun haben, die das Wort Jesu halten und von diesem Wort Jesu leben – in der Gemeinschaft mit Gott und mit den bzw. für die Menschen.

» Wie der Hirt ein jedes der Tiere kennt und beim Namen ruft (Joh 10,3), so verhält es sich mit Gott in Bezug auf uns. Ein jeder von uns ist gemeint, ein jeder, mit anderen Worten, trägt in sich ein bestimmtes Portrait, ein bestimmtes Bild seiner Schönheit und Bedeutung; Gott ruft ihn gerade in dem, was als Kostbarstes in ihm angelegt ist, auf dass er es entfalte und hervorbringe. Nur die Liebe vermag so etwas in dem Raum unserer Erfahrung, aber immer weist alle Liebe unter uns Menschen hin auf jene Liebe, die uns im Vorlauf zu allem eint und überstrahlt. «
Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Erster Teil, Düsseldorf, 469.

Nochmal: Der Anwalt aus Südamerika

Vielleicht ahnen Sie jetzt, warum ich diesen „gemeinsamen Bekannten“ aus Südamerika zum Einstieg wählte. Er ist nur „im Dienst“, er hält nicht das Wort, von dem er spricht (zumindest vermute ich das), und das in der Mail Zugesagte wird mir nicht zuteil. – Ich bin zutiefst dankbar für die Menschen, bei denen es anders ist, die Jesu Wort halten in aller Freiheit der Begegnung und des Erlebens, weil sie erkennbar Liebende sind und mich in diese Liebe hineinnehmen. Je mehr das in mir geschieht, durch mich geschieht und an mir geschieht, desto mehr lerne ich, Jesu Wort zu halten.

Amen.

Köln 18.05.2022
Harald Klein

[1] Drewermann, Eugen (2003): Das Johannes-Evangelium. Bilder einer neuen Welt, Zweiter Teil, Düsseldorf, 136f.

[2] a.a.O., 140.

[3] Khemma, Ayya (2014): Nicht so viel denken, mehr lieben. Buddha und Jesus im Dialog, Uttenbühl, 11.

[4] [4] Drewermann, Eugen (2003): Das Johannes-Evangelium. Bilder einer neuen Welt, Zweiter Teil, Düsseldorf, 141.

[5] a.a.O., 143.