6. Sonntag im Jahreskreis – Als ob Jesus Hegel kennte…

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„Bergpredigt, die dritte…“

So würde es beim Film heißen – nicht, dass es die dritte Bergpredigt wäre, aber es ist die dritte Szene in dieser bei Matthäus sehr frühen Rede Jesu. Nach den Seligpreisungen (vor zwei Wochen) und der Rede vom Salz der Erde und dem Licht der Welt (in der letzten Woche) wird es jetzt handfest! Jesus – oder vielleicht besser, Jesus, wie Matthäus ihn beschreibt – stellt sich über die Propheten, in den „Ich-aber-sage-euch“- Worten sogar über Mose und das Gesetz, die Thora, die doch den Bundesschluss des Volkes Israel untereinander und mit seinem Gott darstellt. Hier geht es zur Sache, hier kommt der Jesus des Matthäus zum Eingemachten, und hier wird schon deutlich, was die Kirche, die sich auf Jesus beruft, beinahe spaltet: die einen fordern die „Erfüllung“ des Gesetzes, die anderen dessen „Aufhebung“ – oft ohne eine Erläuterung dessen den einen gegenüber, was „Aufhebung“ denn meint!

» Hegel sah in dem deutschen Wort Aufhebung den spekulativen Geist der Sprache, der in der Lage ist, gegensätzliche Bedeutungen in einem Wort zu vereinen. Er stellte die drei Momente der dialektischen Aufhebung folgendermaßen dar:
(1) die Beendigung, Überwindung einer Entwicklungsstufe (Negation, „tollere“), z. B. Aufhebung eines Gesetzes, Erlasses.
(2) das Erhalten ihrer zukunftsträchtigen Seiten (Aufbewahrung, „conservare“),
(3) die Integration dieser Seiten in die höhere Stufe der Entwicklung, wodurch sie eine neue Funktion erlangen (Erhöhung, „elevare“), i. S. v. etwas vom Boden aufheben. «
[online]https://de.wikipedia.org/wiki/Dialektische_Aufhebung [09.02.2023]

Hegels Begriff der „dialektischen Aufhebung“

Ohne ein wenig Philosophie kommt man da nicht weiter. Der letzte der deutschen Idealisten, Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) prägte den Begriff der „dialektischen Aufhebung“[1]. Etwas aufheben kann (1) die Beendigung eines Zustandes oder die Überwindung einer Entwicklungsstufe, z.B. des Jugendalters mit Erreichen des 18. Lebensjahres oder eines Gesetzes wie der Maskenpflicht meinen; der lat. Begriff dazu ist „tollere“; unser Begriff „Toleranz“ wurzelt darin. Etwas aufheben kann (2) das Erhalten von Etwas oder das Beibehalten der zukunftsträchtigen Seiten meinen, z.B. Bücher, die eben nicht aussortiert werden, oder Kleidung, die doch noch selbst gebraucht wird; der lat. Begriff für diese Weise des Aufhebens ist „conservare“ – und Sie hören schon die ‚Wurzel unseres Begriffs der Konserven im Keller darin. Schließlich – und vielleicht am spannendsten – meint Aufheben (3) so etwas wie Erhöhung, als wolle man etwas vom Boden aufheben, um es auf den Tisch zu legen. Hier geht es – im persönlichen Bereich – um so etwas wie „Beförderung“ im doppelten Sinne: etwas/jemand wird erhöht, bekommt eine neue Funktion, steht auf einer anderen Stufe seiner/ihrer Entwicklung. Der lat. Begriff für diese dritte Weise des Auf- oder Emporhebens ist „elevare“; der Elevator ist das englische Wort für den Aufzug, Lift oder Fahrstuhl.

Hegel – und in seiner Folge eine Menge anderer Philosophen – spricht jetzt von einer „Negation der Negation“. Sehr vereinfacht heißt das: Wenn das Geburtsdatum der 18 Jahre erreicht ist, „negiert“ sich das Jugendalter, weil das Erwachsenenalter beginnt. Das Jugendalter wird „aufgehoben“ i.S.v. „tollere“, beenden. Und gleichzeitig wird diese Negation selbst negiert; auch ein 18-, selbst ein 80jähriger kann jugendliche Züge „aufgehoben“ i.S.v. „conservare“, bewahren haben; seine oder ihre Jugendlichkeit hat eine andere Stufe, eine andere Entwicklung genommen, sie ist „aufgehoben“ i.S.v. elevare, auf einer höheren Stufe liegend.

» Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben,
sondern um zu erfüllen. «
Mt 5,17b

Jesu dialektische Aufhebung

Das Wort von der „dialektischen Aufhebung“ ist Jesus mit Sicherheit fremd; das, was der Begriff umschreibt, mit Sicherheit nicht! Theologisch – Benedikt XVI. war in seiner Jesus-Büchern darin Meister – kann das „Ihr habt gehört – Ich aber sage Euch“ Jesu so etwas wie die Sar- und Vorstellung Jesu als neuer Mose. Wieder muss man theologisch und exegetisch fragen: War das Jesus selbst – oder vielleicht eher Matthäus, der Jesus so darstellen wollte. Allemal relativieren all diese Sätze, die Jesus in den Mund gelegt werden, das mosaische Gesetz.

Wenn Jesus sagt „Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben“, dann spricht er direkt die Sorge der Juden an, er wolle das Gesetz, die jüdische Thora „aufheben“ i.S.v. „tollere“ – wie man ein Gesetz, einen Erlass, vielleicht auch Umgangsformen oder lang Gewohntes aufhebt, d.h. aufgibt.

Ich meine beobachten zu können, dass genau diese Angst auch die Angst der eher konservativen Strömungen im Katholizismus sind: da ahnt man (z.B. in der Frage nach der Rolle der Frauen, nach dem Umgang mit den queeren Menschen, im Denken über verschiedenen Lebensformen oder im Zusammen von Politik und Kirche) das Wegschwimmen der Felle, den Eingriff des Bösen und satanische Elemente am Werk. Auch hier gilt Jesu Wort: „Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen.“

„Erfüllung“ möchte ich bei Jesus verstehen als „Aufhebung“ i.S.v. „conservare“ – Aufbewahren – und „elevare“ – auf eine höhere Stufe heben. So wird der Ehebruch nicht rechtlich[2] definiert, etwa an den nicht-einvernehmlich abgestimmten Geschlechtsverkehr eines Ehepartners mit einer dritten Person. Dieses enggeführte Verständnis negiert Jesus, hebt aber gerade darin nicht den Begriff des Ehebruchs auf, sondern hebt ihn auf eine höhere Stufe; er negiert die Negation. Damit bleibt ein Netz an Verhalten und Werten, aber gleichzeitig wird ein Seil gespannt, auf dem jeder und jede einzelne sein und ihr Leben ausbalancieren kann.

Ich meine beobachten zu können, dass sich hier, auf dieser Seite, die eher liberalen Strömungen des Katholizismus in ihrer noch nicht aufgegebenen Hoffnung auf eine Lebensrelevanz des Katholischen (ohne „-ismus“) wiederfinden. Ihnen geht es um Leben, nicht um Lehre; ihnen geht es zuerst darum, das Leben zu sehen und anzunehmen, wie es ist. Und dann zu schauen, was die Lehre hergibt, um es lebenswert zu gestalten.

Kurz gesagt: Die Lehre dient dem Leben – das meint Jesus mit „Erfüllung“. Und es geht zum einen um „Erfüllung“ des Gesetzes im dreifach dialektischen Begriff des Aufhebens, und zum anderen um „Erfüllung“ des Lebens derer, die auf diese Weise in den Spuren Jesu gehen.

Ich bin überzeugt: Jesus und Hegel hätten sich an diesem Punkt gut verstehen können.

Amen.

Köln 09.02.2023
Harald Klein

[1] Im Metzler Lexikon Philosophie wird der Begriff der „dialektischen Aufklärung“ wie folgt erläutert: „Begriff der spekulativen Philosophie Hegels, welcher drei der aus dem gewöhnlichen Sprachgebrauch stammenden Bedeutungen von »aufheben« vereint: (1) in die Höhe heben (elevare), (2) bewahren (conservare) sowie (3) wegnehmen, abschaffen (tollere) – wobei letztere Bedeutung bei Hegel im Begriff der Negation enthalten ist. Bei der d.n A. wird z.B. eine Kategorie durch Bezug auf ihr Gegenteil (ihre Negation) in ihrer universalen Gültigkeit negiert. Dadurch ergibt sich nach Hegel eine neue Kategorie, die den Gehalt der ursprünglichen Kategorie bewahrt und mit dem ihrer Opponentin vereint, so dass die neue Kategorie die ursprünglichen Kategorien auf ein höheres und komplexeres (in Hegels Sprachgebrauch »konkreteres«) Niveau erhebt, da deren Einseitigkeit und Ausschließlichkeit »aufgehoben« ist. Der in der Negation der Negation enthaltene Widerspruch ist bei der d.n A. als ein produktives Prinzip gedacht, da hier – anders als bei der doppelten Verneinung in der formalen Logik – das Resultat eine andere als die ursprüngliche Kategorie ist.“ [online] https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/aufhebung-dialektische/230 [09.02.2023]

[2] Vgl.: „Als Ehebruch wird allgemein der vorsätzliche sexuelle Verkehr eines Ehepartners mit einer dritten Person bezeichnet, der nicht einvernehmlich zwischen den Ehepartnern abgestimmt ist.“ [online] https://de.wikipedia.org/wiki/Ehebruch [09.02.2023]