7. Sonntag der Osterzeit – Auf dem Weg zur Vollkommenheit, oder: L(i)eben in Zeiten des uneindeutigen Verlustes

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Jesus betet für seine Jünger

Was für ein verrückter Sonntag – zumindest für die, die liturgisch zu empfinden fähig sind (andere empfinden eher mit der Bundesliga oder auf den Jackpot hin, der Mechanismus ist der gleiche: er vermittelt Sinn). Am vergangenen Donnerstag das Geschehen der Himmelfahrt Jesu, der Tatsache, dass er sich entzieht und irgendwie doch bleibt, dass er schon weg ist und doch irgendwie noch da. Am kommenden Sonntag das Pfingstfest – das Gedenken daran (und vielleicht auch das Erleben dessen), dass Jesus seinen Geist in Überfülle gibt denen, die sich diesem Geist öffnen und ihn aufnehmen wollen – und jetzt dazwischen der Zustand der Ebbe: das „Meer“, Christus, ist weg und wird irgendwann wiederkommen.

Die Feier der Gottesdienste lenkt den Blick auf den Abschluss der Abschiedsreden in Joh 17. Hier betet Jesus sowohl für seine Jünger als auch – und das ist das Evangelium des Tages – für alle Glaubenden. „Alle sollen eins sein“, heißt es, und: „Ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, denn sie sollen eins sein, wie wir eins sind, ich in Dir und Du in mir. So sollen sie vollendet sein in der Einheit (vgl. Joh 17,21-23).

Wenn Sie sich einüben wollen in das liturgische Denken und Beten, stellen Sie sich vor, Sie seien einer der Jünger oder eine der Jüngerinnen Jesu, Sie spüren den Verlust, den Kreuzigung und Himmelfahrt (nach der Überraschung der Auferstehung) in Ihrem Leben hinterlässt, und Sie erinnerten sich in dieser desaströsen Situation an dieses Fürbittgebet Jesu, das er in Ihrer Gegenwart für Sie und die anderen betete.

» Irgendwann muss man sich damit abfinden, für Menschen, von denen man annahm, dass sie immer eine wichtige Rolle im eigenen Leben spielen würden, nur noch in der zweiten oder dritten Reihe zu rangieren. Meistens kann man diese Zurückstellung niemandem übelnehmen, weil man weiß, dass sich in dieser Situation für einen selbst ähnliche Verschiebungen ergeben würden. Weil es zum Charakter jeder Freundschaft gehört, dass sie sich im Laufe des Lebens verändert. Dennoch ist es schwer. Man fühlt sich verstoßen und ist mit einer Lücke konfrontiert, von der man zunächst nicht weiß, wie man sie füllen soll. Der Mensch, der einem so nahestand, ist zwar noch da, zugleich aber auch nicht. In mancher Hinsicht kommt das einem ‚uneindeutigen Verlust‘ gleich.«
Schreiber, Daniel (2021): Allein, 6. Aufl., München, 79f.

Erinnerung an das Konzept des uneindeutigen Verlustes

In mir ist noch der Begriff des „uneindeutigen Verlustes“ lebendig, den die Sozialpsychologin Pauline Boss in den USA prägte und den Daniel Schreiber in seinem Buch „Allein“ auf Freundschaften bezog, bei denen der /die eine in eine Partnerschaft geht – und der /die andere bleibt zurück. Was hier gilt, galt auch für die Jünger im Erleben der Himmelfahrt Jesu:

„Uneindeutige Verluste zeichnen sich durch einen Mangel an Informationen, durch ein Paradox von Anwesenheit und Abwesenheit, ein ‚sowohl als auch‘ aus, durch eine Ambivalenz, die dafür sorgt, dass der Trauerprozess ins Stocken gerät oder gänzlich ausbleibt. Wege zu finden, mit der neuen Situation zurechtzukommen, grundlegende Entscheidungen für ein neues Leben zu treffen und neu anzufangen – all das wird durch diese Ambivalenz erschwert.“[1]

Sie dürfen an diesem Sonntag, der das Einssein mit Christus und das Einssein untereinander thematisiert, den Begriff der „uneindeutigen Verluste“ gerne auch größer denken. Am Himmelfahrtstag kam die physische Dimension des „uneindeutigen Verlustes“ in den Blick: Menschen, die Angehörige vermissen, von denen es keine Lebenszeichen mehr gibt, aber eben auch nicht die Betätigung, dass sie verstorben sind; Erfahrungen von Verlassenheit gehört dazu. Zur psychischen Dimension eines „uneindeutigen Verlustes“ können der Umgang mit Demenzkranken, die ihrer Persönlichkeit verlustig sind, gezählt werden. Der Verlust eines ungeborenen Kindes in der Schwangerschaft umfasst beide Bereiche, der Fötus ist physisch gestorben, und psychisch entzieht sich den Eltern das Leben mit dem erwarteten Kind.

Es geht diesem Begriff aber um viel mehr als um eine Betrachtung des persönlichen Lebensumfeldes. Das Erleben der „uneindeutigen Verluste“ umfasst Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Selbstverständlichkeit eines Friedens in Europa ist ein solcher „uneindeutiger Verlust“; die Tatsache des Klimawandels und die auf ständiges Wachstum ausgelegte Wirtschaft bringt solche „uneindeutige Verluste“ mit sich.

Was tun? Das „zum Himmel schauen“ ist nicht zielführend, wenigstens bekommen das die Jünger am Himmelfahrtstag von den beiden Männern in weißen Gewändern gesagt. Das Sich-Einschließen in einem Obergemach, die Tür hinter sich verrammeln, damit die „uneindeutigen Verluste“ nicht sichtbar oder spürbar werden und die Angst irgendwie betäubt wird, ist es auch nicht.

» Zwischen all den Geschichten, die wir uns erzählen, um zu leben, und zwischen all den Versuchen, diese Geschichten abzulegen, wenn wir merken, dass sie unsere Sicht auf die Dinge verzerren und zu selbstgebauten Gefängnissen werden, gibt es Momente der Stille. Ich hatte den Eindruck, einen solchen Moment zu erleben. Es sind Momente großer Offenheit, in denen alles möglich und unmöglich zugleich scheint. Momente der Verwirrung, der Enttäuschung und der Zuversicht, des Nichtwissens und es Nichtwissen-Müssens. Es sind Momente, in denen man manchmal, ohne es zu merken, einen Schritt nach vorn macht und eine neue Richtung einschlägt. Es sind genau diese Momente, in denen sich das Leben neu schreibt. «
Schreiber, Daniel (2021): Allein, 6. Aufl., München, 140.

Aufbruch aus der Stille und aus der Starre

Einen ersten Hinweis auf das, was zu tun ist, gibt Daniel Schreiber am Ende seines Buches, am Himmelfahrtstag habe ich diesen Hinweis auf die Momente der Stille schon vorgestellt: „Zwischen all den Geschichten, die wir uns erzählen, um zu leben, und zwischen all den Versuchen, diese Geschichten abzulegen, wenn wir merken, dass sie unsere Sicht auf die Dinge verzerren und zu selbstgebauten Gefängnissen werden, gibt es Momente der Stille. Ich hatte den Eindruck, einen solchen Moment zu erleben. Es sind Momente großer Offenheit, in denen alles möglich und unmöglich zugleich scheint. Momente der Verwirrung, der Enttäuschung und der Zuversicht, des Nichtwissens und es Nichtwissen-Müssens. Es sind Momente, in denen man manchmal, ohne es zu merken, einen Schritt nach vorn macht und eine neue Richtung einschlägt. Es sind genau diese Momente, in denen sich das Leben neu schreibt.“[2]

Hören Sie noch einmal hin: Es gibt, ja es braucht im Leben, um vorwärts, um weiterzukommen, „Momente großer Offenheit, in denen alles möglich und unmöglich zugleich scheint. Momente der Verwirrung, der Enttäuschung und der Zuversicht, des Nichtwissens und es Nichtwissen-Müssens.“ Es braucht eine Haltung, die der Haltung Jesu entspricht: „Alle sollen eins sein“ – in der Lehrrede des Buddha zur Liebenden Güte empfiehlt der Buddha: „So möge man für alle Wesen und die ganze Welt ein unbegrenzt gütiges Gemüt erwecken.“[3]

An diesem Sonntag geht es wohl darum, die „uneindeutigen Verluste“ im eigenen Leben – in den Beziehungen, in Familie, Politik, Kirche. Gesellschaft usw. – anzuschauen, in einer Art „Obergemach“, in „stillen Momenten“, als ein „Weilen im Heiligen“ (so der Titel der Predigt an Aschermittwoch). Die ganze Fasten- und Osterzeit kann da auftauchen: die Versuchungen und Verklärungen, das Umhauen und das Umkehren, das Aufstehen und das Halt finden, das eigenhändige Glauben, das Sich-festhalten an Jesu Wort.

Und dann richten Sie sich darauf ein, aus dieser Stille und aus dieser Starre aufzubrechen, vielleicht sogar auszubrechen – je nach Temperament und Lebenslage. „Mit Glaubenssätzen kommt man nicht weiter“, sagt Harald Welzer, und: „Der Schluss muss vor dem Ende gedacht werden.“[4] Es geht um das Leben, nicht um Gesinnung oder Haltung – oder Pläne! „Man ersetzt Handlungen durch Ziele“[5] – auf diese Weise erhält sich am ehesten der Status quo! Ziele tun nicht weh, „Ziele sind keine Handlungen.“[6]Es braucht den Aufbruch, den Ausbruch, es braucht die Handlung, damit Dinge, damit Ziele, damit Ihr Leben, mein Leben gestaltet, ja vielleicht vollendet wird.

» Alle intensiven Beziehungen unter Menschen lassen sich durch eine zentrale ‚Standpunktgemeinsamkeit‘ beschreiben. [...]. Fragt man nach Jahren, was Menschen wesentlich, jenseits aller Augenblicksschwankungen, zusammenhält, so ist es fast immer eine Gemeinsamkeit fundamentaler Werteempfindungen und (religiöser) Überzeugungen. Dazu zählt nicht, dass zwei Menschen sich in allen Fragen ‚einig‘ sind – dass sie dieselbe politische Partei wählen oder in dieselbe Kirche gehen, dass sie dieselben Hobbys hegen oder den gleichen Freizeitsport betreiben -, unverzichtbar aber ist eine gleiche Sicht auf die Menschen, bedeutsam ist eine Gleichartigkeit der Wahrnehmung menschlicher Not, entscheidend ist eine zumindest vergleichbare Bereitschaft, darauf einzugehen. ‚Am selben Strick zu ziehen‘ bildet irgendwann das wohl tiefste Glück der Verbundenheit, vorausgesetzt, an diesem ‚Strick‘ hängt menschlich Wertvolles, bewegt sich etwas, das über Sinn und Unsinn, über Gelingen und Misslingen des Lebens entscheidet. Und diese ‚Standpunktgemeinschaft‘ ist es, die der johanneische Jesus sowohl zwischen sich und seinen Jüngern als auch zwischen den Jüngern untereinander betrachtet. «
Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Zweiter Teil, Düsseldorf, 231.

L(i)eben in „Standpunktgemeinsamkeiten“

Ums Einssein geht es in der Fürbitte Jesu. Einssein meint nicht, ein Herz und eine Seele sein oder Millionen umschlingen zu müssen, gar alle Menschen wie Brüder (und Schwestern) anzusehen. All denen gilt das „gütige Gemüt“, das der Buddha in seiner Rede anspricht, oder der Wunsch, Frieden zu wünschen, den Jesus den Jüngern mitgibt.

Hilfreich in Zeiten der „uneindeutigen Verluste“ ist die Suche nach „Standpunktgemeinsamkeiten“ mit denen, die mir Umfeld und Lebenswelt sind – oder werden können. Den Begriff habe ich bei Eugen Drewermann gefunden.

„Alle intensiven Beziehungen unter Menschen lassen sich durch eine zentrale ‚Standpunktgemeinsamkeit‘ beschreiben. […]. Fragt man nach Jahren, was Menschen wesentlich, jenseits aller Augenblicksschwankungen, zusammenhält, so ist es fast immer eine Gemeinsamkeit fundamentaler Werteempfindungen und (religiöser) Überzeugungen. Dazu zählt nicht, dass zwei Menschen sich in allen Fragen ‚einig‘ sind – dass sie dieselbe politische Partei wählen oder in dieselbe Kirche gehen, dass sie dieselben Hobbys hegen oder den gleichen Freizeitsport betreiben -, unverzichtbar aber ist eine gleiche Sicht auf die Menschen, bedeutsam ist eine Gleichartigkeit der Wahrnehmung menschlicher Not, entscheidend ist eine zumindest vergleichbare Bereitschaft, darauf einzugehen. ‚Am selben Strick zu ziehen‘ bildet irgendwann das wohl tiefste Glück der Verbundenheit, vorausgesetzt, an diesem ‚Strick‘ hängt menschlich Wertvolles, bewegt sich etwas, das über Sinn und Unsinn, über Gelingen und Misslingen des Lebens entscheidet. Und diese ‚Standpunktgemeinschaft‘ ist es, die der johanneische Jesus sowohl zwischen sich und seinen Jüngern als auch zwischen den Jüngern untereinander betrachtet.“[7]

» Der Garten lebte, wuchs und atmete. Er war unfertig und schön. «
Schreiber, Daniel (2021): Allein, 6. Aufl., München, 84.

Unfertig und schön

Unverzichtbar ist die gleiche Sicht auf den Menschen, bedeutsam ist eine Gleichartigkeit der Wahrnehmung menschlicher Not, entscheidend ist eine zumindest vergleichbare Bereitschaft, darauf einzugehen. Hier haben Sie eine Art Anleitung, in den vielen Erfahrungen uneindeutiger Verluste nicht notwendig als Verlierer oder Verliererin herauszugehen. Spielen Sie die drei Punkte einmal durch in Ihre Erfahrungen von uneindeutigen Verlusten – Sie werden darin ein kleines Pfingsten erleben.

Das hebt den Klimawandel nicht auf, befriedet nicht den Krieg Russlands gegen die Ukraine, stoppt nicht den Exodus aus den Kirchen, und heilt nicht von jetzt auf gleich die Wunden, die „uneindeutige Verluste“ in meinem Leben schlagen. Daniel Schreiber verweist auf den Garten, den ein sterbenskranker Freund von ihm angelegt hatte. Das Sterben wurde ihm nicht genommen aber: „Der Garten lebte, wuchs und atmete. Er war unfertig und schön.“[8]

Amen.

Köln 20.05.2022
Harald Klein

[1] Schreiber, Daniel (2021): Allein, 6. Aufl., München, 79f.

[2] a.a.O., 140.

[3] Khema, Ayya (2014): Nicht so viel denken, mehr lieben. Buddha und Jesus im Dialog, 4. Aufl., Uttenbühl, 11f.

[4] Welzer, Harald (2021): Nachruf auf mich selbst, Frankfurt a.M., 265.

[5] a.a.O., 68.

[6] a.a.O., 265.

[7] Drewermann, Eugen (2003): Das Johannes-Evangelium. Bilder einer neuen Welt. Zweiter Teil, Düsseldorf, 231.

[8] Schreiber, Daniel (2021): Allein, 6. Aufl., München, 129.