Warum die Geschichte von Stephanus?
Der Sonntag heute ist, zumindest liturgisch gesehen, der „kirchlichste“ aller Sonntage. Er liegt zwischen Himmelfahrt und Pfingsten und spiegelt die Realität der Kirche wider. Himmelfahrt nimmt den leibhaftigen, mit allen Sinnen sicht-, berühr- und erkennbaren Jesus in den Blick, in dem Moment, in dem er sich allem Sehen, Berühren und Erkennen entzieht. Pfingsten nimmt den – beinahe möchte ich sagen – wiederkehrenden Christus in Gestalt des Geistes in den Blick, in dem Moment, wo aus dem Sich-Verschließen ein Sich-öffnen, aus einem Unverständnis ein Verstehen und aus einer Leere der Verlassenheit eine Fülle des Heiligen Geistes und ein Erfüllt-sein durch ihn wird.
Und ausgerechnet an diesem Sonntag fällt die Apostelgeschichte zurück in ihre Anfänge. Im Lesejahr A zielt die Lesung aus der Apostelgeschichte auf Pfingsten, erzählt wird, wie die Jünger zusammen mit Maria sich in das Obergemach eines Hauses zurückziehen und dort im Gebet verharren – eben bis zur Offenbarung des Geistes. Im Lesejahr B erzählt die Apostelgeschichte von der Wahl des Matthias, der per Los gegen Barnabas „gewinnt“ und die Leerstelle im Zwölferkreis einnimmt, die durch den Suizid des Verräters Judas entstanden ist. Beides sind „Anfangsgeschichten“ aus dem ersten Kapitel der Apostelgeschichte. Beide Geschichten zielen auf Pfingsten. Aber in diesem Lesejahr C kommt die Steinigung des Stephanus, die ihren eigentlichen Ort am 26. Dezember hat, Findest du darin einen Bezug – rückblickend auf Himmelfahrt oder vorausschauend – auf Pfingsten? Wieso Stephanus?
wenn nicht
um die neunte Stunde
als er schrie
sind wir ihm
wie aus dem Gesicht geschnitten
Nur seinen Schrei
nehmen wir ihm noch ab
und verstärken ihn
in aller Munde «
Die Situation der Gottverlassenheit
Vielleicht ist es die „liturgische Lage“, die eine Antwort möglich macht. Der leibhaftige Christus ist schon ver- oder entschwunden, jedenfalls allem Sehen, Berühren und Erkennen entzogen. Der Geist Christi hat sich noch nicht gezeigt oder verschenkt. So muss sich Gottverlassenheit im wahrsten Sinne des Wortes anfühlen. In Apg 1,12-14 (Lesejahr A) versuchen die Jünger mit Maria sehr gemeinschaftlich, in der betenden Gemeinschaft diese Gottverlassenheit auszuhalten und neu zu Gott und zueinander zu finden. In Apg 1,15-17.20ac-26 (Lesejahr B) gehen die elf Jünger strukturell daran, per Los den Jüngerkreis wieder zu vervollständigen, um so vielleicht der Gottverlassenheit begegnen zu können. Und Stephanus? Mir scheint, er begegnet persönlich der Gottverlassenheit der anderen, der schreienden Menge, die auf seine Worte hin die Ohren zuhalten, die auf ihn losstürmen, die ihn aus der Stadt hinausjagen und die ihn steinigen.
Stephanus ist in den drei ausgewählten Lesungen für diesen Sonntag zwischen Himmelfahrt und Pfingsten diejenige neutestamentliche Figur, die die am eigenen Leibe die Gottverlassenheit, für die dieser Sonntag steht, aushält, ausbadet, mit dem Leben bezahlt und sie trotzdem mit Leben füllt.
Ein doppeltes Lernen
Es macht diesen Sonntag so interessant – und Pfingsten dann übrigens doppelt schön –, dass er die Situation der Gottverlassenheit so plastisch darstellt. Du kannst dir deine Welt anhand der Texte unter dem Aspekt der Gottverlassenheit ausmalen. Rückzug ins Private, in Angst hinter verschlossenen Türen ausharren, das Schicksal (und nicht den klaren Menschenverstand) entscheiden lassen, letztlich in deiner Lebendigkeit, vielleicht sogar an deinem Leben gehindert werden – oder all das bei anderen aus deinen Kreisen und darüber hinaus zu sehen. Lernen, diese Gottverlassenheit zu sehen, zu erkennen, zu erspüren – das ist das Erste, was an diesem Sonntag seinen Platz hat.
Und das zweite ist Stephanus! Seine drei Worte in der Situation der Gottverlassenheit: „Siehe, ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen.“ – „Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!“ – „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“
Ein wenig ins Heute übersetzt: In der Situation der Verfolgung sich nicht ins Obergemach zurückziehen, sondern „himmelnahe“ Alternativen suchen; nicht auf das Los, auf das Schicksal setzen und entscheiden lassen, sondern sich dazu zu verhalten suchen und seinen Geist von Christus führen lassen; nicht die Welt und die Menschen verfluchen, sondern dir treu bleiben in dem, was dich ausmacht, und dich einsetzen für das, wofür es zu leben lohnt.
Zugegeben, für die Zeit zwischen dem absenten Christus der Himmelfahrt und dem präsenten Christus des Pfingstfestes ist so eine Haltung beinahe nicht lebbar. Aber sei gewiss: Pfingsten kommt bald – und ehrlich gesagt: es war ja schon da. Heute geht es um die Erinnerung, um das aufpolieren dessen, was du und ich, was wir ja schon wissen.
Und ein letztes: Im Dreiklang Wort – Wirkung – Wahrheit der Auferstehung zeigt sich sicher in der Weise, wie Menschen die Situation der Gottverlassenheit durchleben und durchstehen, welche Wirkung das Wort von der Auferstehung hat Stephanus ist somit nicht nur der erste Märtyrer, der sein Leben für Christus gab, sondern auch der erste, der in seiner Haltung in der Situation der Gottverlassenheit für die Wahrheit der Auferstehung Zeugnis gab.
So viel für heute – und für diese Woche.
Köln, 22.05.2025
Harald Klein