7. Sonntag im Jahreskreis – Mehr mir selbst gehorchen

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Die Pädagogik Jesu – nach Lukas

Sie haben vielleicht noch den „Jesus von oben herab“ und den „Jesus auf Augenhöhe“ aus dem vergangenen Sonntag im Sinn. Die „Bergpredigt“ im Matthäusevangelium, zu der Jesus die Menge verlässt und auf einen Berg steigt, um zu lehren, und die „Feldrede“ im Lukasevangelium, zu der Jesus vom Berg hinabsteigt zu den Menschen und mitten unter ihnen lehrt.

Zwischen dem letzten und dem heutigen Sonntagsevangelium liegen drei Verse, die verstörend wirken können. Es geht um die Weherufe Jesu, die so etwas wie die Kehrseite der Seligpreisungen sind.[1] Hier klagt Jesus förmlich die Reichen, die Satten, die Lachenden und die Hochgelobten an – der Hintergrund dieser Anklage, dieser Verwünschungen bleibt Ihrer Spekulation überlassen.

Im sechsten Kapitel des Lukasevangeliums können Sie im direkten Anschluss an das Vorherige schön sehen, welche „Pädagogik“ der Evangelist Lukas nun Jesus zuzuschreiben versucht. Erst die Seligpreisungen – das Ziel, zu dem es hingehen soll, z.B. Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet satt werden. Dann die Weherufe, die Mahnungen, z.B. Weh euch, die ihr jetzt satt seid, denn ihr werdet hungern. Und schließlichim heutigen Evangelium – kommen auf einmal die Imperative an, die Befehle Jesu, in denen er die wohl größte der christlichen Tugenden vorgibt: „Liebt eure Feinde, tut denen Gutes, die euch hassen! Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch beschimpfen! Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd.“ (Lk 6,27-29)

» Das Humane ist dem Menschen nicht gegeben, sondern aufgegeben. «
Schulz von Thun, Friedemann (2021) Erfülltes Leben. Ein kleine Modell für eine große Idee, München, 157.

Tugenden im Imperativ

Neben der Frage nach dem größten Gebot – Sie wissen um den Dreiklang von Gott-, Nächsten- und Selbstliebe – stellt Jesus in der Feldrede bei Lukas genauso wie in der Bergpredigt bei Matthäus jetzt die Feindesliebe als Gebot, als den Imperativ christlicher Tugend hin. Da sagt mir Jesus, was ich zu tun – und in den Weherufe auch, was ich zu lassen – habe, um ein christlich-tugendhaftes Leben zu führen. Das nicht-christliche Umfeld möge die Christens doch bitte an diesen Tugenden erkennen, so ist der Plan. Es geht hier und jetzt bei Jesus nicht um Bitten, um Vorschläge, es geht um Imperative, und Jesus erwartet mindestens den Versuch ihrer, aber eigentlich den Gehorsam ihnen gegenüber. In diesen Imperativen spiegelt sich das „Du sollst…“ des Sinai und der Zehn Gebote wider, und man darf mit Fug und Recht Jesus als eine Art „zweiter Mose“ ansehen und deuten, der das Gesetz Gottes, den Willen Gottes für das Handeln des Menschen hier neu formuliert.

» Und doch könnte man alle die vielen Tugenden, die der Mensch sich erfunden hat, mit einem einzigen Namen umfassen. Tugend ist: Gehorsam. «
Hesse, Hermann (2012): Eigensinn, in: Michels, Volker (Hrsg.): Hermann Hesse, Das essayische Werk, Bd. 2, Berlin, 101.

Tugend als Gehorsam anderen gegenüber

Ist der Mensch gut, wenn er ausführt, wozu man ihn anhält – wer oder das „man“ auch alles sein mag? Heinrich Manns Figur vom „Untertan“ zeigt, was geschieht, wenn „man“ dem „man“ gehorcht. Hermann Hesse geht mit den gesellschaftlichen Erwartungen, mit den Tugenden ins Gericht: „Von allen den vielen Tugenden, von denen wir in Büchern lesen und von Lehrern reden hören, kann ich nicht so viel halten. Und doch könnte man alle die vielen Tugenden, die der Mensch sich erfunden hat, mit einem einzigen Namen umfassen. Tugend ist: Gehorsam.“[2]

Sie können diesen ganzen Teil der Feldrede lesen unter dem Aspekt, dass Jesus Gehorsam einfordert. Und ich frage mich, ob oder bei wem dieses Einfordern von Gehorsam den „Resonanz-Draht“ im Modell von Hartmut Rosa zum Vibrieren bringen kann. Wenn Resonanz eine Art der Weltaneignung und der Weltbegegnung ist, welche Art Resonanz entsteht in einem solchen Geschehen, in einer solchen Begegnung, in einer Institution, die auf einen solchen Gehorsam pocht?

» Wer eigensinnig ist, gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen, unbedingt heiligen, dem Gesetz in sich selbst, dem ‚Sinn‘ des ‚Eigenen‘.«
Hesse, Hermann (2012): Eigensinn, in: Michels, Volker (Hrsg.): Hermann Hesse, Das essayische Werk, Bd. 2, Berlin, 101.

Tugend als Gehorsam mir selbst gegenüber

Hermann Hesse fährt in seiner Betrachtung über den Eigensinn fort: „Die Frage ist nur, wem man gehorchte. Nämlich auch der Eigensinn ist Gehorsam. Aber alle anderen, so sehr beliebten und belobten Tugenden sind Gehorsam gegen Gesetze, welche von Menschen gegeben sind. Einzig der Eigensinn ist es, der nach diesen Gesetzen nicht fragt. Wer eigensinnig ist, gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen, unbedingt heiligen, dem Gesetz in sich selbst, dem ‚Sinn‘ des ‚Eigenen‘.“[3]

Ich bin mir sicher, dass in Hartmut Rosas Resonanz-Modell in seinen „horizontalen Dimensionen der Resonanz“[4]auch eine Liebes- und Freundschaftsbeziehung zu mir selbst zuordnen kann. Und ich bin mir sicher, dass der Mensch, der mit sich selbst in guter Resonanz ist, aufnahmefähig für Ideen und Vorschläge anderer ist. Es macht dann den Unterschied, ob die in der Feldrede beschriebenen Tugenden der Feindesliebe, des Mitgehens, des Teilens und abgeben aufgrund eines Gehorsams einem anderen oder etwas anderem gegenüber geschieht – welche Rolle mag da die Resonanz spielen? Oder ob sie aufgrund eines vibrierende Resonanzdrahtes innerhalb meiner Persönlichkeit – Hesses „Eigensinn“ – oder aus intrinsischer Motivation, einfach, weil ich es richtig, gut, stimmig finde, geschieht.

» Wenn wir sie (i.e. die Welt, H.K.) lieben, entsteht so etwas wie ein vibrierender Draht zwischen uns und der Welt. Dieser Draht wird einerseits gebildet durch das, was Sozialpsychologen intrinsische Interessen nennen. «
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., Berlin, 24.

Vollkommen wehrlos …

Ich mag mich täuschen, aber ich glaube, dass das Ziel der Sammlung von Menschen, die man Jesus zuschreiben darf, genau solche Eigensinnige meint, die von sich aus ein Gespür entwickeln dafür, was jetzt richtig, gut, stimmig ist. Oder, wie es Herman van Veen einmal gesungen hat:

„Ich hab ein zärtliches Gefühl / für jeden Nichtsnutz, jeden Kerl, /
der frei umherzieht ohne Ziel, der niemands Knecht ist, niemands Herr.

Ich hab ein zärtliches Gefühl / für den, der seinen Mund auftut,
der Gesten gegenüber kühl und brüllt, wenn’s ihm danach zumut‘.

Ich hab ein zärtliches Gefühl für den, der sich zu träumen traut,
der, wenn sein Traum die Wahrheit trifft, noch lachen kann, wenn auch zu laut.

Ich hab ein zärtliches Gefühl für jede Frau, für jeden Mann,
für jeden Menschen, wenn er nur vollkommen wehrlos lieben kann.“

Amen.

Köln 18.02.2022
Harald Klein

[1] Vgl. Lk 6,24-26: „Aber weh euch, die ihr reich seid; denn ihr habt keinen Trost mehr zu erwarten. Weh euch, die ihr jetzt satt seid, denn ihr werdet hungern. Weh euch, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet klagen und weinen. Weh euch, wenn euch alle Menschen loben; denn ebenso haben es ihre Väter mit den falschen Propheten gemacht.“ – Text aus der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Freiburg, 1983.

[2] Hesse, Hermann (2012): Eigensinn, in: Michels, Volker (Hrsg.): Hermann Hesse, Das essayische Werk, Bd. 2, Berlin, 101.

[3] ebd.

[4] Vgl. Rosa, Hartmut (2016) Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin, 72 u.ö.