Verw:ortet 06/2023: Berbner, Bastian (2021): 180 Grad – Geschichten gegen den Hass

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Kontakt suchen und anbieten – um Vorurteile zu überwinden

„Von Menschen, die ihre Vorurteile überwinden“, steht wie ein dritter Titel auf dem Buch. „180 Grad“- der erste Titel – ist in leichten Pastellfarben wie im Hintergrund auf der Umschlagseite mehr zu erahnen als zu lesen, „Geschichten gegen den Hass“ – der zweite Titel – prangt unter dem Namen des Autoren mittig auf der Umschlagseite, und der optische Knaller ist der rote Punkt links unten, beinahe wie ein Aufkleber, mit der weißen Schrift: „Von Menschen, die ihre Vorurteile überwinden“.

Das Buch, seine Inhalte und Berbners Vorgehensweise habe ich in einer eigenen Rezension bereits beschrieben. Hier im verw:ortet-Beitrag geht es um den „roten Punkt“, geht es um Aussagen aus dem Buch, die zeigen, wie Vorurteile wirken können und was helfen kann, sie zu überwinden.

Die große Leistung des ZEIT-Journalisten Bastian Berbner scheint mir zu sein, aufzuzeigen und Hoffnung zu machen darauf, dass es hier niemals nur um ein „Ich“ und „Du“ geht, sondern auch um ein „wir“ und „ihr“ bzw. “wir“ und „sie“. Die vom amerikanischen Sozialpsychologen Gordon Allport 1954 beschriebene Kontakthypothese ist von „Individuen“ übertragbar auf „Kollektive“, davon ist Berbner überzeugt. Bereits Allport kannte vier Begleitumstände, die hilfreich und vielversprechend sind, damit Vorurteile auch innerhalb von Gruppen abgebaut werden können und somit dem Hass aufeinander die Kraft genommen wird. Es braucht (1) zwischen den Menschen oder Gruppen ein gemeinsames Ziel; es braucht (2) Augenhöhe; die Kontakte werden (3) von Institutionen gestützt; und der Kontakt soll (4) zwischen Personen mit ähnlichem Stand stattfinden.

Die einzelnen Zitate sind allesamt aus ihrem Zusammenhang herausgenommen, und nur die Lektüre des Buches oder das Nachhören auf dem Podcast „Geschichten gegen den Hass“ von NDR-Info mit Interviews der Protagonisten, die im Buch vorkommen, heben das auf. Dennoch sind es Worte, die ermutigen, mit Hilfe von gewähltem und angebotenem Kontakt sei es individuell, sei es in Gruppen die eigenen Vorurteile anzugehen und zu überwinden.

Alle Zitate sind entnommen aus Berbner, Bastian (2021): 180 Grad – Geschichten gegen den Hass, 4. Aufl., München. In Klammern sind die Seitenzahlen angegeben.

» Vielleicht war es kein Glück, dass sich die RICHTIGEN Menschen trafen, sondern dass sich die richtigen Menschen TRAFEN. Vielleicht sind es nicht die Menschen, die diese Geschichten besonders machen, vielleicht sind es die Situationen.«
Berbner, Bastian (2021): 180 Grad – Geschichten gegen den Hass, 4. Aufl., München, 26.

Die Zitate

„Vielleicht war es kein Glück, dass sich die richtigen Menschen trafen, sondern dass sich die richtigen Menschen trafen. Vielleicht sind es nicht die Menschen, die diese Geschichten besonders machen, vielleicht sind es die Situationen.“ (26)

„Der Mechanismus wirkt in beide Richtungen, aus Distanz folgen Vorurteile und aus Vorurteilen folgt Distanz. Diese Eskalationsspirale hat die USA zu einer Angst- und Hass-Gesellschaft werden lassen.“ (40)

„Nähe führt nicht automatisch zu Sympathie. Nähe zertrümmert Stereotype. Nicht nur negative – auch positive.“ (30)

„Das, woran wir uns erinnern, bestimmt unser Verhalten. Das, woran wir uns erinnern, entscheidet, wie wir über eine Sache denken – oder über einen Menschen. Kahnemann und Tversky nannten es den Availability Bias.“ (72)

„Wenn du jemanden von deiner Sichtweise überzeugen willst, dann musst du mit ihm reden.“ (108)

„In der Demokratie reicht es nicht, wenn die Regierung das Richtige tut. Sie muss auch die Menschen davon überzeugen, dass es das Richtige ist.“ (126)

„In heterogenen Gesellschaften gibt es vielleicht kein anderes Werkzeug, das zuverlässiger Begegnungen von Andersdenkenden herbeiführt als das Los.“ (133)

Experiment von Solomon Ash 1951: „Wie die Studenten aus Princeton und Dartmouth entschieden sie sich für die Loyalität zur Gruppe und gegen die Wahrhaftigkeit.“ (161)

„Forscher haben den Zusammenhang zwischen Gruppenidentität und Aggression gegen Außenstehende bis hinein in die menschliche Biologie nachgewiesen. Sehen wir ein Foto eines traurigen Menschen, der Teil unserer eigenen Gruppe ist, leiden wir mit. Zeigt es einen einer rivalisierenden Gruppe, empfinden wir Freude.“ (161)

„Manchmal hat die Empathie keine Chance. Dann, wenn starke Gruppenidentitäten sie betäuben. Manchmal ist Kontakt kontraproduktiv. Dann, wenn nicht einzelne Menschen aufeinandertreffen, sondern Gruppen. Keine Individuen, sondern Stämme.“ (163)

„Was nun? Zunächst machen die Geschichten in diesem Buch eines deutlich: Wenn man Menschen dazu bringen will, ihre Meinungen zu ändern, wenn man zum Beispiel will, dass sie ihren Rassismus, ihre Homophobie, ihren Islamismus, ihren Anarchismus ablegen, dann hilft es nicht, ihnen zu sagen, dass sie falschliegen, egal wie oft oder wie laut, man muss es ihnen zeigen.“ (194)

„Wie sähe eine deutsche Gesellschaft aus, in der Kontakt zwischen Andersdenkenden nicht die Ausnahme, sondern die Regel wäre? […] Der Schlüssel zum Kompromiss oder wenigsten einem menschlichen Miteinander [… erg.: ist] nicht nach Unterschieden zu suchen, sondern nach Gemeinsamkeiten. Das klingt trivial, ist aber bei genauem Hinsehen revolutionär, weil wir es – gerade in der öffentlichen Debatte – so selten tun. Wir suchen nach Unterschieden, nach Konflikten, nach dem Drama, vor allem wir Journalisten.“ (197f)

Köln, 31.05.2023
Harald Klein