„Alles beginnt mit der Sehnsucht…“ (Nelly Sachs)

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„Alles beginnt mit der Sehnsucht…“ (Nelly Sachs)

 „Hallo, ich bin Tom!“

Ein kleiner Junge schaut aus dem Fenster, das er mit Eisblumen schmückt. Im Hof sieht er ein kleines, leicht verwahrlostes Mädchen im Schnee – mit viel zu kalten Sommerschuhen. Er greift in eine Keksdose, läuft hinunter zu dem kleineren Mädchen, teilt den Keks und sagt „Hallo, ich bin Tom!“. Er nimmt das Mädchen mit in die Wohnung, wo der bärtige Vater im Lehnstuhl sitzt und Zeitung liest. Wohlwollend schaut er auf die beiden Kinder, das Mädchen staunt mit einem über den Baum und den Schriftzug an der Wand, dort steht: „Frohe Weihnachten.“ – Und das Mädchen fragt: „Was ist Weihnachten?“ – Und den Schluss, den verrate ich Ihnen nicht!

Der zweite Anfang – die Sehnsucht des Menschen nach Menschlichkeit

Mit dem Blick des kleinen Tom aus dem Fenster will ich beginnen. Und mit der Wahrnehmung der Welt, die sich direkt vor seinem Fenster auftut. Das anrührende an der kleinen Filmsequenz ist seine Reaktion – der Griff in die Keksdose, das in-die Knie-gehen vor dem Mädchen, seine einfache Sprache: „Hallo, ich bin Tom!“ Da gibt es im noch so kleinen Menschen eine Sehnsucht nach Menschlichkeit.

Nelly Sachs (1891-1970) wurde 1966 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, für ihre Lyrik, die die Sehnsucht nach Menschlichkeit in Zeiten des Holocausts und des Krieges in Verse packte. „Alles beginnt mit der Sehnsucht.“ – so beginnt ihr wohl bekanntestes Gedicht. Immer ist im Herzen Raum für mehr, für Schöneres, für Größeres. Immerfort sich hinstrecken auf Kommendes.“

Ich nenne dieses „Alles beginnt mit der Sehnsucht“ an diesem ersten Advent mal den „zweiten Anfang“. Die Sehnsucht des Menschen nach Menschlichkeit … – die Sehnsucht des kleinen Tom … – meine Sehnsucht … – Ihre Sehnsucht … Advent: das Hinspüren auf den zweiten Anfang von etwas, neu sich öffnen für die Sehnsucht des Menschen nach mehr Menschlichkeit. Öffnen Sie bitte nicht nur die Fenster und die Türen Ihres Adventskalenders, sondern nutzen und öffnen Sie die Fenster und Türen Ihres Hauses und Ihres Lebens.

Der erste Anfang – die Sehnsucht Gottes nach Menschlichkeit

Eigentlich könnte ich hier aufhören, aber damit würde ich weder Nelly Sachs noch dem 1. Advent wirklich gerecht. Moralpredigten wie „Öffnen Sie die Fenster und Türen Ihres Hauses und Ihres Lebens“ gehen in der Regel links rein und rechst raus.

Da würde ich doch lieber noch mit Ihnen auf den „ersten Anfang“ schauen. Der erste Anfang ist nämlich nicht die Sehnsucht des Menschen nach mehr Menschlichkeit, sondern die Sehnsucht Gottes nach mehr Menschlichkeit. Im Gedicht von Nelly Sachs stellt sie die Frage: „Fing nicht auch deine Menschwerdung, Gott, mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an?“

Das ist doch mal ein Türchen, ein Fenster am Adventskalender, das zu öffnen sich lohnt! Gottes Sehnsucht nach dem Menschen. Stellen Sie sich das mal bildlich vor: Sie öffnen das erste Türchen, und dahinter steht der Satz von Nelly Sachs: „Fing nicht auch deine Menschwerdung, Gott, mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an?“ – Oder der unseres Limburger Alt-Altbischofs Franz Kamphaus: „Mach’s wie Gott: werde Mensch!“ Oder der Film über Tom und das Mädchen: „Hallo, ich bin Tom!“

Der erste Anfang des Advents ist die Sehnsucht Gottes nach dem Menschen. Und der zweite Anfang des Advents ist die Sehnsucht des Menschen nach mehr Menschlichkeit.

Das Ende – die Frage nach unserer Menschlichkeit

Schade, aber verständlich, dass das Evangelium mit Bildern der Angst arbeitet: da ist vom Hinwegraffen und vom Zurücklassen die Rede, von der Wachsamkeit, und von der notwendigen, von der die Not wendenden Bereitschaft, dass der Menschensohn zu einer Stunde kommen kann, in der ich ihn nicht erwarte. Schade, aber verständlich – deswegen, weil Sehnsucht immer auch zur Unmenschlichkeit führen kann!

Wissen Sie, wie der Plural von „Sehnsucht“ heißt? Das Wörterlexikon schlägt „Sehnsüchte“ vor. Klingt komisch – ist es auch! Die Sehnsucht hat schon auch mit „Sucht“ zu tun! Es braucht die vier Wochen des Advents, um den zweiten Anfang – die Sehnsucht des Menschen nach Menschlichkeit – vom Ende her zu deuten. Da wird uns der erste Anfang – die Sehnsucht Gottes nach dem Menschen – buchstäblich in die Wiege gelegt, wir nenne sie dann „Krippe“. Da wird uns der Mensch nach Gottes Bild und die Art und Weise der Menschlichkeit, nach der Gott sich sehnt, geschenkt. Zwei Tipps: es geht dann gut mit der Sehnsucht nach Menschlichkeit, wenn ich sie von hinten her deute: „quidquid agis, prudenter agas, et respice finem“ – was auch immer du tust, tue es klug, und bedenke das Ende. Das wäre eine „gereinigte Sehnsucht“, die mehr mit dem „sich sehnen“ als mit der „Sucht“ zu tun hat. Und der zweite Tipp: den nennt der hl. Ignatius das „Maßnehmen an Jesus Christus“, an seinem Leben, seinen Worten, seinem Schicksal.

Dazu haben wir jetzt vier Wochen Zeit, in denen Türchen und Fensterchen, Türen und Fenster öffnen können, in denen wir nach außen schauen, wie die Welt ist, und nach innen, wie ich bin.

Nehmen Sie den einen Satz mit in den Advent: „Hallo, ich bin Tom!“ Und ich verrate Ihnen noch etwas: Die Telekom hat sich mit dem magischen Adventskalender auch etwas Tolles einfallen lassen – googlen Sie’s doch mal.

Amen.

» Alles beginnt mit der Sehnsucht. «
Nelly Sachs, aus: Eli. Ein Mysterienspiel vom Leiden Israels, in: dies. (1962): Das Leiden Israels/Eli/In den Wohnungen des Todes/Sternverdunkelung, Frankfurt/Main, 61.

Alles beginnt mit der Sehnsucht.
Der blaue Himmel
das endlose Band der Straße –
der Mensch sieht ein Sinnbild des Lebens darin.

Immer ist im Herzen Raum
für mehr, für Schöneres, für Größeres.
Immerfort sich hinstrecken
auf ein Kommendes –

Das ist des Menschen Größe und Not.
Sehnsucht nach Verstehen,
nach Freundschaft, nach Liebe.
Und wo Sehnsucht sich erfüllt,
dort bricht sie noch stärker auf:
dass es so bleibe,
dass es nicht vorübergehe.

Fing nicht auch deine Menschwerdung, Gott,
mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an?
So lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen,
dich zu suchen,
und lass sie damit enden,
dich gefunden zu haben.

Harald Klein, Köln