Der „Direktor“ und sein „Direktorium“
Es war 1985, bei einem meiner ersten eigenständigen Fahrten in die damalige DDR, genauer nach Mecklenburg-Vorpommern, über Karneval, wo eine Gruppe junger Erwachsener aus der Katholischen Gemeinde mich einlud, die „tollen Tage“ dort mit ihnen zu verbringen. Ich hätte nicht gedacht, dass die „Fischköppe“ – so bezeichneten sie sich selbst! – so feiern konnten. Natürlich gehörte auch der Besuch des Gottesdienstes am Aschermittwoch dazu. Der sitzt tief, selbst heute noch. Der damalige Pfarrer hatte ein herrisches und gewaltiges Auftreten und eine ebensolche Figur. Klar, wer hier der „Chef“ war. Seine „Predigt“ war eine ebenso eindeutige wie direkte Anweisung, was in der Österlichen Bußzeit zu tun und zu lassen sei. Er las die „Kirchliche Bußordnung“ aus dem Direktorium, dem liturgischen Kalender seiner Diözese vor, aus dem die Leseordnung der Lesungen und Evangelien genauso hervorgeht wie die Farbe der Gewänder für jeden Tag – und eben auch die Besonderheiten einer geprägten Zeit wie Advent oder Fastenzeit. Das Regelbuch der Kirche, wenn man so will.
Angesichts der jungen Erwachsenen, mit denen ich – damals als Student der Theologie – zuhörend diesem „Chef“ ausgesetzt war, habe ich mich nur noch geschämt, und ich tue es bis heute noch. Mir sagen lassen zu müssen von einem, der zumindest für mich in seiner Rolle als Geistlicher nur schwer ernst zu nehmen war, was ich zu tun und zu lassen habe – so konnte und kann ich mir den Beginn einer Zeit der Umkehr nicht vorstellen. Von was ich mich wegzubewegen habe, wurde mir um die Ohren gehauen, nicht aber, worauf ich mich zu bewegen könne.
Die Richtung des Aschermittwochs: Mehr „hin…zu“ als „von…weg“
Wie wirst Du in diese „Österliche Bußzeit“ gehen, die ja vor allem Vorbereitung für ein großes Fest, für Ostern, ist und der die festliche Osterzeit folgt? Das wäre der erste wichtige Punkt, den ich Dir mitgeben möchte: „Fastenzeit (so will ich sie weiterhin nennen) ist kein Selbstzweck für sich, sondern hat ein strahlendes Ostern als Ziel. Von daher ist die Frage „Was fastest Du?“ mit seinen vielen Antwortmöglichkeiten (Alkohol, Fernsehen und PC, Süßigkeiten – oder auch „Ich faste Druck!“) nicht wirklich zielführend. Sie hat einen Weg „von…weg“ im Blick, sie ist inhaltlich ausgerichtet auf das, was Du hinter Dir lassen möchtest. Mehr zielführend wäre die Frage nach einem Weg „hin…zu“; weil eben am Ende Ostern, Auferstehung und ein Ja zu allem Lebendigen jetzt vor Dir steht. Also nochmal die Frage: Wie gehst Du in diese „Österliche Bußzeit“, die ja vor allem Vorbereitung für ein großes Fest ist und der die festliche Osterzeit folgt? Willst Du „von…weg“oder „hin…zu“? Wie fühlt sich Deine Aschermittwochstimmung an, welchen Ausdruck magst Du ihr geben? Kannst Du die Atmosphäre Deines Aschermittwochs schildern?
Rilkes „Aschermittwochstimmung“
Mit 20 Jahren schreibt Rainer Maria Rilke über einen kalten Winterabend in einer böhmischen Zeitschrift. In seiner Rilke-Biografie schreibt Gunnar Decker: „Zu den 1895 erschienenen Texten gehört auch das Feuilleton ‚Böhmische Schlendertage‘, in dem der Zwanzigjährige bereits unter Beweis stellt, dass er Atmosphären zu schildern vermag: Draußen tanzen gelbe Blätter. Der Wind heult in meinem Ofen und pfeift den Takt dazu. Ein lustig Lied! Und ich sitze beim Schreibtisch mit heißem Kopf und kalten Füßen. Von Zeit zu Zeit werfe ich einen Blick hinaus in den bunten Blätterkarneval. Mich friert. Es ist eine Aschermittwochstimmung.“[1]
Ich gebe Dir das Zitat an die Hand, um mit Rilke nachspüren zu können, was die Stimmung oder die Atmosphäre DeinesAschermittwochs ist. Bei Rilke ist es der Wind im Ofen, der heiße Kopf, die kalten Füße, der Blätterkarneval, der andauert über den Aschermittwoch hinaus. Wird sein Blick auf das „weg…von“ oder auf das „hin…zu“ gehen? Und was prägt Deine Aschermittwochstimmung, Deine Aschermittwochsatmosphäre?
Evangelium statt Direktorium
Statt ins kirchliche Regelbuch, ins Direktorium, zu schauen, lass uns lieber einen Blick ins und aufs Evangelium für den heutigen Aschermittwoch werfen. Und dann wird sofort klar, wie der Weg sowohl des „weg…von“ als auch des „hin…zu“aussehen kann.
Das Evangelium heute ist Teil der Bergpredigt. Jesus verkündigt hier sein Programm und darin vor allem die Korrekturen, die helfen sollen, dass aus dem jüdischen Gesetz kein Straf-Buch, sondern ein Wege-Buch werden soll. Es geht ihm nicht darum, die zu bestrafen, die „gegen das Gesetz“ verstoßen, sondern Wege aufzuzeigen, wie Leben gelingen kann. Almosen, Gebet und Fasten sind die drei „Hauptwerke“ der jüdischen Religion, die zu einem gelingenden Leben führen. Zu einem Leben, das hilfreich für das Zusammenleben der Menschen und (somit auch) wohlgefällig für Gott ist.
Jesus holt die Dimension Gottes in alle drei Ebenen hinein: „Wenn Du Almosen gibst, soll Deine linke Hand nicht wissen, was Deine rechte tut, damit Dein Almosen im Verborgenen bleibt; und Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es Dir vergelten […] Wenn Du betest, gehe in Deine Kammer, schließ die Tür zu; dann bete zu Deinem Vater, der im Verborgenen ist! Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es Dir vergelten. […] Wenn Du fastest, selbe Dein Haupt und wasche Dein Gesicht, damit die Leute nicht merken, dass Du fastest, sondern nur der Vater, der im Verborgenen ist; und Dein Vater, der das Verborgene sieht, wird es Dir vergelten.“ (vgl. Mt 6,1-6.16-18)
Fällt Dir auf, dass da nichts von „von…weg“ drinsteht, nur von „hin…zu“?
Noch einmal Rilke in seinem Prosatext „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ von 1910, der wie ein undatiertes Tagebuch geschrieben ist. Hier lässt er seinen „Malte“ schreiben: „Ich lerne sehen, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.“[2]
Hier schließt sich mir der Kreis. „Aschermittwochstimmung“ ist ein Weg hin zu Deiner Inneren Kammer, in das Verborgene Deiner selbst, das Du aufsuchen kannst und in das Du auch jemanden einladen kannst, der oder die Dir Hilfe sein kann. Die drei Kategorien Jesu scheinen mir hilfreich zu sein: „Almosen“ – was bist Du bereit zu geben (und da denke weit!)? „Beten“ – was empfange ich an Leben über mein Tun hinaus, was empfange ich täglich neu, immer wieder, was habe ich einmalig empfangen; und wie steht es mit meiner Haltung der Dankbarkeit, wem auch immer gegenüber? „Fasten“ – auch „was will ich lassen?“, aber vor allem, um mehr zu leben und mehr Leben zu schenken? Oder auch: Wo geht es hin?
Eugen Drewermann kommentiert nachdrücklich die Verse, die das Almosen, das Geben beinhalten. Er schreibt. „Es gibt eine ‚Belohnung‘, die einfach darin liegt, etwas, das richtig ist, auch zu tun. Die ‚Belohnung‘ dafür liegt in dem Tun selbst, sie kommt nicht als Prämie hintendran. Man kann mit dem Guten nicht etwas erreichen wollen, so wie man morgens zur Arbeit geht, um am Abend sein Geld dafür abzuheben; einzig indem etwas Richtiges im Zusammenhang mit anderen Menschen geschieht, ordnet es sich so, wie es unter den Menschen und im Menschen selber stimmt. Das ist alles. Das Gefühl, dass es stimmt, ist die einzige ‚Belohnung‘. Sie ist nichts anderes als eine Harmonie, die sich bildet, wenn man die Saiten einer Harfe richtig stimmt.“[3]
Das ist alles. Das Gefühl, dass es stimmt. Einen guten Weg Dir – hin zu Deinem Ostern.
Amen.
Köln, 13.02.2024
Harald Klein
[1] Decker, Gunnar (2023): Rilke. Der ferne Magier. Eine Biographie, München, 56 – Das Zitat wurde übernommen aus Nalewski, Horst (Hrsg.)(1981): Von Kunst-Dingen, Leipzig und Weimar, 12.
[2] Rilke, Rainer Maria (1982): Sämtliche Werke, hrsg. vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth-Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Frankfurt/Main, 1982, Band III-1 Prosa, 110f.
[3] Drewermann, Eugen (1989): Das Markus-Evangelium. Bilder von Erlösung, 1. Teil, 5. Aufl., Olten/Freiburg, 513.