Der Grundton: Zitat aus dem Tagesevangelium
In jener Zeit
gingen die elf Jünger nach Galiläa
auf den Berg, den Jesus ihnen genannt hatte.
Und als sie Jesus sahen,
fielen sie vor ihm nieder,
einige aber hatten Zweifel.
Mt 28,16f
Die Terz: Ein lyrischer Konnex
Hilde Domin: Die schwersten Wege
Die schwersten Wege
werden alleine gegangen,
die Enttäuschung, der Verlust,
das Opfer,
sind einsam.
Selbst der Tote der jedem Ruf antwortet
und sich keiner Bitte versagt
steht uns nicht bei
und sieht zu
ob wir es vermögen.
Die Hände der Lebenden die sich ausstrecken
ohne uns zu erreichen
sind wie die Äste der Bäume im Winter.
Alle Vögel schweigen.
Man hört nur den eigenen Schritt
und den Schritt den der Fuß
noch nicht gegangen ist aber gehen wird.
Stehenbleiben und sich Umdrehn
hilft nicht. Es muss
gegangen sein.
Nimm eine Kerze in die Hand
wie in den Katakomben,
das kleine Licht atmet kaum.
Und doch, wenn du lange gegangen bist,
bleibt das Wunder nicht aus,
weil das Wunder immer geschieht,
und weil wir ohne die Gnade
nicht leben können:
die Kerze wird hell vom freien Atem des Tags,
du bläst sie lächelnd aus
wenn du in die Sonne trittst
und unter den blühenden Gärten
die Stadt vor dir liegt,
und in deinem Hause
dir der Tisch weiß gedeckt ist.
Und die verlierbaren Lebenden
und die unverlierbaren Toten
dir das Brot brechen und den Wein reichen –
und du ihre Stimmen wieder hörst
ganz nahe
bei deinem Herzen.
in: Domin, Hilde (1987): Gesammelte Gedichte, Frankfurt/Main, 116f.
Die Quint: Was ins Klingen kommt
unendliche mühe im bergauf
gebotene vorsicht im bergab
ganz allein
bei mir sein
um durchzuhalten
um nicht zu fallen
die schwersten wege
alleine gehen
die kleine kerze
allein tragen
in mir
gehen
und
warten
dass licht einbricht
ins Dunkel
dass der Himmel
sich öffnet
dass die gnade
mich stützt
in den lebenden
die den tisch
mit mir teilen
und vielleicht auch
den weg
Köln, 13.05.2023
Harald Klein