Christi Himmelfahrt – oder: Die Repolitisierung des Christentums

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„ … gib mir Klassenkampf“

Jean-Pierre Kindler, 1996 in Duisburg geboren, Kabarettist, aber viel mehr auch ein Vordenker der LINKEN und Meister darin, beides zu verbinden, hat 2023 „eine neue Kapitalismuskritik“ geschrieben, deren Titel im Ganzen ich nur unten in der Fußnote wiedergeben möchte.[1] In seiner Kapitalismuskritik geht es um die Themen Armut, Glück, Klimakrise, Demokratie, Linkssein und das gute Leben. Bewunderns- und absolut lesenswert, wie er die Bögen der  Themen zueinander auf 145 postkartengroßen Seiten zu schlagen vermag.

In der Einführung bringt er einen Begriff, den mein Word-Rechtschreibeprogramm aufzunehmen nicht bereit ist: „repolitisieren“. Kindler schreibt: „Es braucht dringender als jemals zuvor den Mut, die Frage nach dem guten Leben radikal zu repolitisieren und von der individuellen auf die kollektive Ebene zu hieven.“[2]

Im „und“ liegt hier eine Richtung und ein Programm – grundsätzlich befürwortet er die Entwicklung von einer vom neoliberalen Denken z.B. Margret Thatchers geprägten „Gesellschaft der Gesellschaftslosen“[3]. Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht ähnlich, beinahe analog von der „Gesellschaft der Singularitäten“[4]. In Konfrontation mit der Haltung des „Selflove“, den er oft in Verbindung mit einem neoliberalistischen Denken und Handeln, aber beileibe nicht nur damit, bringt, zeichnet er ein (Gegen-) Bild des politischen Menschen: „Der politische Mensch abstrahiert von der eigenen Erfahrung, der eigenen Situation, und denkt sich als Teil einer Schicksalsgemeinschaft, für deren Belange es sich zu kämpfen lohnt. Politische Menschen spüren das Verlangen, ein bewertendes Verhältnis zur Welt zu haben, immerzu verbinden mit dem Wunsch, aus diesem Weltverhältnis heraus Veränderungen anzustoßen. Das ist nicht zu machen in einer Gesellschaft, in der die verständliche Reaktion auf Entfremdungserfahrungen der Rückzug in die eigene Innerlichkeit bedeutet. Solidarität bedeutet in diesem Kontext, dem omnipräsenten, scheinpolitischen Ich-Bezug eine trotzige Absage zu erteilen.“[5]

Abstraktion von der eigenen Erfahrung und der eigenen Situation, sich als Teil einer Schicksalsgemeinschaft mit Belangen, die bedroht werden, empfinden, eine begründete Bewertung zur Welt haben und sie zu verändern versuchen – das gelingt nicht durch „Selflove“, durch einen Rückzug in die Innerlichkeit, sei es die individuelle oder sei es die der „Schicksalsgemeinschaft“. Es braucht die Absage an den „scheinpolitischen Ich-Bezug“.

» Dieses Buch möchte dafür plädieren, auf Abstand von sich selbst zu gehen, denn das ist es, was Politischsein für mich bedeutet: Der politische Mensch abstrahiert von der eigenen Erfahrung, der eigenen Situation, und denkt sich als Teil einer Schicksalsgemeinschaft, für deren Belange es sich zu kämpfen lohnt. Politische Menschen spüren das Verlangen, ein bewertendes Verhältnis zur Welt zu haben, immerzu verbunden mit dem Wunsch, aus diesem Weltverhältnis heraus Veränderungen anzustoßen. Das ist nicht zu machen in einer Gesellschaft, in der die verständliche Reaktion auf Entfremdungserfahrungen der Rückzug in die eigene Innerlichkeit bedeutet. Solidarität bedeutet in diesem Kontext, dem omnipräsenten, scheinpolitischen Ich-Bezug eine trotzige Absage zu erteilen. «
Kindler, Jean-Philippe (2023): Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf. Eine neue Kapitalismuskritiker, Reinbek, 23f.

„Was steht ihr da…?“ – In der Rolle der Männer von Galiläa

Ob es Jean-Philippe Kindler freuen würde – ich kann es nicht beurteilen. Aber in die Reihe seiner Ausführungen möchte ich den Evangelisten Lukas und seine Worte zufügen, die er den beiden in weiß gekleideten Männer nach der Himmelfahrt des Auferstandenen in den Mund legt: „Während sie [die Jünger] unverwandt ihm nach zum Himmel emporschauten, siehe, da standen zwei Männer in weißen Gewändern bei ihnen und sagten: Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel empor? Dieser Jesus, der von euch fort in den Himmel aufgenommen wurde, wird wiederkommen, wie ihr ihn habt zum Himmel hingehen sehen“ (Apg 1,10f).

„Was steht ihr da…?“ – die erste und strukturelle Frage ist, wen die beiden weiß gekleideten Männer ansprechen. Meint das „ihr“ die Singularitäten, also jeden einzelnen selbst? Dann wäre der Jüngerkreis am Ölberg (und in seiner Fortsetzung die Kirche ) so etwas wie eine „Gemeinschaft der Gemeinschaftslosen“. Oder meint das „ihr“ wirklich die Gruppe als Ganze, die in der Himmelfahrt nach der Kreuzigung den, der ihnen Identität schenkte, nach der Kreuzigung nun ein zweites Mal gehen lassen muss. Dann wäre der Jüngerkreis (und in seiner Fortsetzung die Kirche) eine identitätspolitische Größe innerhalb der Gesellschaft, von der kleinen Dorfkirche und geistlichen Gemeinschaften über die Bistümer und Landeskirchen bis hin zur Weltkirche.

Oder anders gefragt: „Was steht ihr da…?“ – die Lähmung, die in der Verlassenheit eines jedes einzelnen (oder doch der Gruppe als Ganze?) wurzelt. „Was steht ihr da…?“ – die Lähmung, die im Warten auf den weißen Rauch am Petersplatz wurzelt, einige Tage ist es her, das Warten auf den einen Mann im weißen Gewand; wem wird seine Botschaft gelten? Den Singularitäten? Oder der identitätspolitischen Gemeinschaft der Christen? „Was steht, kniet, sitzt ihr da…“ – die Lähmung in der Feier des Gottesdienstes, in der der Blick der Singularitäten ähnlich nach vorn und nach oben geht wie der Blick der Jünger an Himmelfahrt; ich vermute, der identitätspolitische Aspekt des Gottesdiensts nimmt mit dem Schlusssegen schnell ein Ende.

Was würde passieren, wie würde es nach innen und außen wirken, wenn diese Formen der Lähmung in der Kirche – es gibt sicher etliche mehr – von der individuellen auf die kollektive Ebene gehievt würde, wenn die Singularitätenbegännen, sich als identitätpolitische Größe zu verstehen, wenn Glauben und Religion also „repolitisiert“ würde?

» Diese Forderung nach Solidarität nennt sich in identitätspolitischen Kreisen ‚Allyship‘, zu Deutsch: ‚Verbündetenschaft‘. Viele Menschen, die nicht von der Diskriminierung betroffen sind, drücken ihre Solidarisierung mit marginalisierten Gruppen dadurch aus, dass sie sich selbst als ‚Ally‘, als ‚Verbündete*r‘ bezeichnen, gerne auch im eigenen Tinder-Profil. Die in der Wortbedeutung des ‚Verbündeten‘ angedeutete Augenhöhe zwischen demjenigen, der Solidarität einfordert, und demjenigen, der Solidarität anbietet, wird diskursiv allerdings nicht mit vermittelt. Aber ganz im Gegenteil beutetet ‚Allyship‘ häufig eben nicht nur, sich bedingungslos mit denen zu solidarisieren, die von Diskriminierung im Alltag betroffen sind, sondern eben auch eins zu sein mit sämtlichen gesellschaftspolitischen Forderungen, die aus der Betroffenheit von Diskriminierung abgeleitet werden. Und an dieser Stelle werden Diskurse dann aus meiner Sich recht eindeutig autoritär. Es geht häufig nicht mehr um den Austausch von Argumenten auf Augenhöhe, sondern um die Forderung politischer Bußfertigkeit in einem quasireligiösen Sinne. «
Kindler, Jean-Philippe (2023): Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf. Eine neue Kapitalismuskritiker, Reinbek, 124f.

Immer noch: die Verbindung von Wort – Wirkung – Wahrheit der Auferstehung

Das kann am ehesten dort geschehen, wo die Gemeinschaft der Gläubigen sich nicht als Singularitäten verhalten, nicht als Gemeinschaft der Ichlinge, sondern ein wirkliches Kollektiv, eine Schicksalsgemeinschaft ist. Der Begriff „Ichling“ ist älter, als du glaubst. Im Wörterbuch der Gebrüder Grimm, begonnen 1838, wird Bezug genommen auf ein Zitat des Romantikers Jean Paul (1763-1825). Jean Paul schreibt: „Ichling, Egoist: allerdings geniest der Ichling den größten Grad häuslichen Glücks, nämlich sein eigenes“.[6]

Wo die Jünger und wo deren Nachfolger, wo Menschen, die sich Christen nennen, „Ichlinge“ sind, verhalten sie sich in der Gemeinschaft der Glaubenden wie neoliberal denkende und handelnde Menschen in der Demokratie. Letztere kennen in der Politik Kapitalismus und Wahlen, Erstere kennen in der Gemeinschaft der Glaubenden vielleicht Lehren und Dogmen, vielleicht vertraute Frömmigkeitsrituale – ja , und auch Wahlen. Nicht nur die der Pfarrgemeinderäte, nicht nur die der Gemeinden, denen sie zugehörig sein möchten, nicht nur die der Formen an Teilnahme oder der Zugehörigkeit, zunehmend auch die Wahl des Bleibens oder Gehens.

Im biologischen Pendant wird das „Was steht ihr da und schaut zum Himmel?“ in etwa zur Frage an das Kaninchen: „Was stehst du da und schaust zur Schlange?“ Aus dieser Starre gilt es sich zu lösen – dieses Loslösen kann die Wirkung des Wortes von der Auferstehung sein, die Auskunft über dessen Wahrheit gibt. Ein repolitisiertes Christentum bleibt nicht stehen und schaut zum Himmel, seine Mitglieder senken auch nicht das Haupt und verkommen in ihren eigenen Verstricktsein in Wer-weiß-worin. Repolitisierung des Christentums heißt wie Repolitisierung der Armut, des Glücks, der Klimakrise, der Demokratie, des Linkssein: neben den Kirchenchören und den beratenden Gremien wirkliche Schicksalsgemeinschaften, wirkliche Gefährtinnen- und Gefährtenkreise schaffen, die sich einsetzen füreinander und gemeinsam über sich hinausblicken. Repolitisierung des guten Lebens wäre eine Schnittmengenaufgabe für Kirche und Politik.

Ob es gelingt? Vielleicht so: Den Ichlingen müssten mehr Stichlinge in Kirche und Politik begegnen, damit Bewegung ins Ganze kommt. Das wäre dann ein wenig wie Himmelfahrt – mit beiden Beinen auf der Erde , und doch dem Himmel entgegen. Das wäre die Basis für ein repolitisiertes, identitätspolitisches Christentum. Christus ist uns entzogen. Aber wirsind da, und Christus in uns! Aufrecht halt. Klingt gar nicht wie ein Himmelfahrtskommando, ist aber eins!

So viel für heute – und für diesen Himmelfahrtstag.

Köln, 17.05.2025
Harald Klein

[1] vgl. Kindler, Jean-Philippe (2023): Scheiß auf Selflove, gib mit Klassenkampf. Eine neue Kapitalismuskritik, 2. Aufl., Reinbek.

[2] a.a.O., 23.

[3] vgl. a.a.O., 24.

[4] vgl. Reckwitz, Andreas (2019): die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin.

[5] a.a.O., 23f.

[6] vgl. [online] https://literaturkritik.de/id/17810 [16.05.2025]