Ein Kinderspiel
„Ich sehe was, was Du nicht siehst…“ Mit Sicherheit kennen Sie dieses Spiel, das knapp vorschulpflichtige Kinder für ein paar Jahre gerne mit Älteren spielen, ist doch der Rahmen der gleiche für alle: es geht um ein bewusstes Hinsehen, um ein Wahrnehmen und für wahr halten dessen, was ist, was gesehen, was erkannt und was erraten werden kann.
„Ich sehe was, was Du nicht siehst…“ – auf den ersten Blick ein Kinderspiel. Und wenn Sie schon wissen, welches Evangelium am letzten Sonntag des Kirchenjahres, dem Christkönigssonntag gelesen wird, wissen Sie auch schon, worauf ich hinauswill.
„Ich sehe was, was Du nicht siehst…“ – wirklich ein Kinderspiel? Wenn Sie die Rede Jesu zum Weltgericht lesen, kann Ihnen anders werden. Wie ein Hirt wird der Menschensohn in dieser Rede die Schafe von den Böcken scheiden. Das Kriterium der „Unter-Scheidung“: Die Schafe zur Rechten haben ihn, den Menschensohn hungrig, durstig u.a. gesehenund ihm zu essen und zu trinken u.a. gegeben. Die Böcke haben ihn ebenfalls hungrig, durstig u.a. gesehen und ihm eben nichts zu essen und zu trinken u.a. gegeben.
Die Gerechten, die Schafe zur Rechten fragen: „Herr, wann haben wir Dich hungrig gesehen und Dir zu essen gegeben, oder durstig, und Dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir Dich fremd gesehen und aufgenommen oder nackt und Dir Kleidung gegeben? Oder wann haben wir Dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu Dir gekommen? Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,37-40)
Die Böcke zur Linken werden dagegen verstoßen und fragen jetzt: „Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder fremd oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben Dir nicht geholfen? Darauf wird er ihnen antworten: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt Ihr auch mir nicht getan. Und diese werden weggehen zur ewigen Strafe, die Gerechten aber zum ewigen Leben.“ (Mt 25,44-46)
Das Leben – eine Sehschule
Der Düsternis dieses Evangeliums können Sie eigentlich nur entkommen, wenn Sie es als eine Art Sehschule lesen. Die Schule bietet Ihnen zwei „Fächer“ an, in denen sie unterrichten will: Das erste Fach heißt „Was sehe ich?“, das zweite Fach heißt: „Wie sehe ich?“
Im ersten Fach „Was sehe ich?“ lernen Sie, den Blick zu „richten“. Vielleicht so, dass Sie nur beim Gewohnten, Bekannten verweilen. Oder so, dass Sie schon mal einen „Seitenblick“ auf Neues, Ungewohntes wagen oder sogar auf ganz Fremdes. Fremdes, bei dem sich entweder sofort abwendet, weil Fremdes auch bedrohlich sein kann, oder bei dem der Blick verweilt, weil es herausfordert. „Leistung: ungenügend“ stünde in Ihrem Zeugnis in diesem Fach dann, wenn Sie den Blick nur „anziehen“ lassen, Ihre Aufmerksamkeit willkürlich weggeben, und wenn sich weigern zu sehen, was auch da ist, aus welchem Grund auch immer. „Die Augen verschließen“ ist der Todfeind des „Was sehe ich?“
Im zweiten Fach „Wie sehe ich?“ lernen Sie, das, was Sie sehen, zu verstehen, es einzuordnen in ein größeres Ganzes.
Der niederländische Schriftsteller J. Bernlef hat 1989 in seinem kleinen Roman „Hirngespinste“ die Entwicklung von Maarten Klein beschrieben, der an Demenz erkrankt und dem sich im Laufe der Zeit genau diese Fähigkeit, dieses „Fach „Wie sehe ich?“ entzieht. Er schreibt: „Ein Mensch kann lange Zeit schauen, ohne zu sehen. Schauen kann Robert (d.i. der Hund der Familie, H.K.) auch, aber die Teebüchse auf dem Käsehobel kann er nicht erkennen. Er schaut, ohne zu sehen, meine ich.“[1]
Und wenig später – Marten blättert in Fotoalben, die ihm helfen sollen, sich zu erinnern (sie tun es nicht!) – heißt es: „‘Fotos betrachten ist etwas anderes als Fotos ansehen‘, sage ich. ‘Fotos ansehen kann jeder, aber ein Foto betrachten bedeutet, dass man daraus lesen kann.‘“[2]
Nicht den Hungrigen suchen, sondern den Hunger in Deinem Gegenüber
Was auf den ersten Blick, im ersten „Ansehen“ wie ein Christsein light erscheint, ändert sich beim tieferen Hinsehen, beim „Schauen“ und „Betrachten“ wesentlich. Da ist das erste Fach „Was sehe ich?“ Sehe ich Dich, wenn Du bei mir bist? Siehst Du mich, wenn ich bei Dir bin? In sozialen Bezügen ist das eine der großen Klage: „Ich fühle mich nicht gesehen!“ Das ist noch weniger als übersehen zu werden.
„Was sehe ich?“, wenn ich Dich sehe? Auf diese Frage werden Sie „augen-scheinlich“ antworten können. „Du siehst aber schlecht aus“, können Sie sagen, oder „Du hast einen neuen Pullover, den kenne ich noch gar nicht.“ Das ist der Anfangs-, der Ausgangspunkt. Es fehlt das zweite Fach.
„Wie sehe ich?“ – Sie haben es oben schon gelesen. Hier lernen Sie, das, was Sie sehen, zu verstehen, es einzuordnen in ein größeres Ganzes. Das ist kein „augen-scheinliches“ Sehen, hier schweigen die Sinne und warten auf Anweisung. „Wie sehe ich?“ zielt auf Ihr Gemüt, auf Ihr Herz, auf Ihre Werte. Es geht – um in der Bildsprache des Evangeliums zu bleiben – nicht primär um das „Sehen“ des Hungrigen, um das „Betrachten“ des anderen, um „lesen“ und dadurch „verstehen“, „einordnen“ zu können, um Bernlefs Begriffe zu nehmen. Es geht um das Erahnen, vielleicht auch das Erfragen des Hungers selbst.
Den anderen sehen, oder: Empfangt das Reich als Erbe
Christsein light – das wäre „Du Hunger, ich Suppe!“ Das ist nicht schlecht, in den Krisengebieten der Welt ist diese Form vielleicht lebensnotwenig. Aber Christsein, wie es Ihnen am Ende eines Kirchenjahres, in einem apokalyptischen Evangelium vom Ende des Lebens verkündet wird, kann kein Christsein light sein.
„Was sehe ich?“ Den anderen sehen, ihn ansehen und ihm Ansehen schenken, vom anderen gesehen werden, mich ansehen lassen und mir Ansehen schenken lassen, einander zu begegnen in Hunger und Durst, in Fremdheit und in unseren Blößen, krank und befangen, gefangen in den Stricken des Lebens – dafür braucht es einen „wage-mutigen“ Blick und genauso ein „wage-mutiges“ Mich zeigen. „Den anderen sehen“ korrespondiert mit dem „Ich zeige mich“.
An diesem Punkt kommt das „Wie sehe ich?“ ins Spiel! Das Verstehen, das Einordnen dessen, was sich Ihnen zeigt. Und je nach der Weise, wie Sie das, was Sie sehen, einordnen, verstehen, darauf reagieren, könnten Sie Jesu Satz hören: „Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, empfangt das Reich als Erbe, das seit der Schaffung der Welt für Euch bestimmt ist!“ (Mt 25, 34)
Kein Kinderspiel
„Ich sehe was, was Du nicht siehst…“ Mit Sicherheit kennen sie dieses Spiel, das knapp vorschulpflichtige Kinder für ein paar Jahre gerne mit Älteren spielen, ist doch der Rahmen der gleiche: es geht um ein bewusstes Hinsehen, um ein Wahrnehmen und für wahr halten dessen, was ist, was gesehen, was erkannt und was erraten werden kann.
„Ich sehe was, was Du nicht siehst…“ – auf den zweiten Blick eben kein Kinderspiel. Die Weise, was Sie sehen und die Weise, wie Sie es sehen, können entscheidend für „ den Empfang des Reiches als Erbe“ sei, und gerne dürfen Sie diese Metapher mit den Worten füllen, die für Sie ausdrucksstärker sind.
Ich würde mir für den Ernstfall gerne Christus an die Seite wünsche, der mit mir „Ich sehe was, was Du nicht siehst“ spielt. Oder „Ich sehe so, wie Du nicht siehst!“ Allein, um wach zu werden und um wach zu bleiben für das Leben.
Amen.
Köln, 23.11.2023
Harald Klein
[1] Bernlef, J. (1989): Hirngespinste, München/Zürich, 70f.
[2] a.a.O., 90.