Der königliche Mensch – der menschliche König
Um es gleich zu sagen: nur wegen des Wortspiels und der Umkehrung von Subjekt und Adjektiv ist hier nur vom „menschlichen König“ die Rede. Die sogenannten Archetypen im Denken von Carl Gustav Jung (1875-1961), dem Begründer der analytischen Psychologie, kennt nicht nur u.a. König, Krieger, Magier und Liebhaber, also die maskuline Form. In seiner Annahme der Archetypen[1] weiß er auch um Königin, Kriegerin, Magierin und Liebhaberin. Und gegen das Gender-Sternchen hätte er sicher auch nichts einzuwenden.
„Archetypen“ können verstanden werden als das ursprüngliche Muster oder Modell, von dem alle Dinge der gleichen Art kopiert werden oder auf dem sie basieren. Bei Jung kommt ein kollektives Innewohnen dieser unbewussten Idee oder Vorstellung dazu, die in der menschlichen Psyche universell gegenwärtig ist.
Und jetzt das Evangelium von heute. Jesus ist verhaftet, wird von Hannas verhört, Petrus verleugnet ihn gleich dreimal, die jüdische Obrigkeit bringt ihn zum Verhör zu Pilatus. Der ist völlig hin- und hergerissen, im wahrsten Sinne des Wortes.
Und jetzt frage ich Dich: welchen Archetypen hatte Pilatus wohl vor Augen, oder welchen eben gerade nicht, wenn er den gefolterten, blutenden und dem Zusammenbruch nahen Jesus fragt: „Bist Du der König der Juden?“ Fallen Dir, sagen wir mal, drei oder vier „Kennzeichen“ ein, die Pilatus mit „König“ verbinden wird? Oder die er bei Jesus, dem „König der Juden“ aus seiner eigenen Sicht zu Recht vermutet? Fallen Dir, sagen wir mal, drei oder vier „Kennzeichen“ ein, die Du mit „König“, mit „Herrschaft“ oder „Herrschenden“ in Verbindung bringst? – Bleibe einen Moment bei Deinen Bildern, bei Deinen Ausprägungen der Archetypen! Behalte sie für einen Moment in Bewusstsein.
„Mein Königtum ist nicht von dieser Welt“ – die helle und die dunkle Welt
Weiter geht es mit der Antwort Jesu auf die Frage des Pilatus, ob er der König der Juden sei. Und was er getan habe, damit ihn sein eigenes Volk und die Hohenpriester haben ausliefern lassen.[2] „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt“, antwortet Jesus, aber danach fragt Pilatus ja gar nicht. Er fragt mit seinen Bildern, die er für real hält, ob Jesus ein König sei.
„Nicht von dieser Welt“, ja von welcher denn dann? Seine Antwort erläutert Jesus, wohl gemerkt nach Verhaftung und Verhör, sicher blutig und mit gefesselten Händen: „Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme!“
Da tun sich die berühmten Dualismen auf, die dem Christentum mehr geschadet als genutzt haben. In die Welt sei er gekommen – und dogmatisch gesichert müssen wir glauben: vom Himmel her, zumindest singen wir es am 1. Advent so. Da gibt es ein oben und ein unten, und da gibt es die Wahrheit und die Lüge. Mir genügt es, die These aufzustellen, dass diese Dualismen nicht auf zwei Welten hinweisen, sondern auf die eine Welt mit ihren hellen und ihren dunklenSeiten. Man könnte hier aufhören und behaupten, Jesus sei in die dunkle Seite der Welt gekommen, um sie auf die hellezu führen. Aber das wäre zumindest mir zu wenig, zu dualistisch, und ehrlich gesagt, zu billig.
„Mein Königtum ist nicht von dieser Welt“ – Sir Karl Popper und seine Drei-Welten-Lehre
Ein Gedankenspiel: Der österreichisch-britische Philosoph Sir Karl Popper (1902-1994) bringt Dich oder zumindest mich mit seiner Drei-Welten-Lehre ins Staunen. Popper und seine Drei Welten lassen mich das Königtum Christi freudig verstehen.
Die drei Welten in Poppers Modell unterscheiden sich und wirken aufeinander ein.
Welt 1 meint die physikalische, objektive Welt materieller Objekte; hierzu gehören z.B. Tische, Häuser, Berge, Gestirne und Moleküle, alles, was gemacht, gebaut, hergestellt ist.
Welt 2 meint die mentale, subjektive Welt subjektiver Bewusstseinsinhalte; hierzu gehören Gedanken, Vorstellungen, Gefühle, Empfindungen und Erinnerungen.
Welt 3 meint die intersubjektive Welt intersubjektiver Ideen, z.B. mathematische Sätze, Ideologien, auch die Drei-Welten-Lehre selbst. Theorien, Kunstwerke, Mythen und Religionen haben hier ihren Platz.
Poppers Leistung war, anhand dieses Modells zu zeigen, wie die Drei Welten zusammenwirken. Alltäglich ist das Zusammenspiel von Welt 1 und Welt 2. Welt 1 mag für Städte und Länder stehen, Welt 2 für die Suche nach Möglichkeiten, dorthin zu gelangen – und Bewusstsein schafft nun mit Materie Autos, Schiffe, Flugzeuge und Raketen, selbst die Marsmission kommt in den Blick. Neben Welt 1, aus Materie und Energie bestehend, und Welt 2, aus alles psychischen Zuständen und intellektuellen Vorgängen, seien sie bewusst oder unbewusst, bestehend, kommt jetzt Welt 3, die Welt der menschlichen Kultur, der Theorien, der Behauptungen und der Aussagen. Um beim Beispiel vom Stadtbesuch zu bleiben, lebt in der Welt 3 die Frage nach dem Warum, das Abwägen nach dem Preis, den es kostet, oder der Gewinn-Verlust-Rechnung, deren Ergebnis – und jetzt kommt es – das Handeln zu beeinflussen vermag.
Jesu Königtum – aus der Welt 3
Jesu Königtum als Teil der Welt 3 heißt für mich, dass es etwas gibt, dass das Leben zu gestalten vermag und allem Lebenden die Qualität des Lebendigen gibt, mehr noch: erhält. Es ist eine eigene „Kultur“ des Lebens, die offenbart, enthüllt, gezeigt und vorgelebt werden muss (was für alle Religionen oder sinnstiftende Modelle gilt).
Als Evangelium, als Frohe Botschaft, als Predigt gehört dieses Königtum in Welt 1, manifestiert als Buch, als Lektionar, weitergeführt als Podcast, als Dokument im PC, gehört in Kapellen und Kirchen usw. Hier wohnt unser Kulturchristentum!
Als Plan und Entwurf gehört das Königtum Christi zu Welt 3 und wirkt genau dann auf Welt 2, wenn Menschen diese Inhalte und diese Weise des Lebens in ihr Bewusstsein aufnehmen und geistig verarbeiten. Im Taufritus heißt es über dem Täufling: „Du gehörst für immer Christus an, der gesalbt ist zum Priester, König und Propheten…“ Diese Wechselwirkung zwischen Welt 3 und Welt 2 sind zunächst immateriell, müssen zugesprochen oder gefunden werden, haben dann aber die Kraft, sogar die Option, objektiv in die Welt 1 hineinzuwirken. Hier, in diesem Geschehen, wohnt das spirituelle Christentum.
Das ist es, von woher Jesus ein König ist – aus der Welt 3 – und wie dieses Königtum ihn geformt hat – in Welt 2. Es gibt in seinem Leben immer eine Wechselwirkung zwischen der Welt 1 und seiner manifesten Umwelt und der Welt 2und seiner subjektiven Selbstdeutung. Diese Wechselwirkung zu verobjektivieren und sie dann „Kirche“ zu nennen, ist nur dann plausibel und gerechtfertigt, wenn die Manifestationen dieser „Kirche“ in Welt 1 erkennen lassen, dass sie in pluralen Wechselwirkungen mit der Welt 3 und der Welt 2 stehen.
Pilatus, das unterstelle ich ihm, aber auch manche Kirchenhierarchien und konservative Kreise im Christentum scheinen in der objektiven Welt 1 zu verharren und die subjektive Welt 2 auf die bzw. mit der eigenen Subjektivität zu verwechseln. Ihnen mag der Satz Jesu besonders gelten: „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt.“
Amen.
Köln, 08.11.2024
Harald Klein
[1] Eine gelungene Übersicht dieser hier genannten vier Archetypen und ihres Zusammenspiels bietet Michael Monzer auf [online] http://monzer.de/wp-content/uploads/2018/02/Archetypen.pdf [22.11.2024] – Die Zusammenfassung der Folien zu lesen lohnt ungemein, weil sie die Zusammenspiele der Archetypen im alltäglichen Leben sehr gut einfängt.
C.G. Jung kennt 12 Archetypen, der Einfachheit halber mal in weiblicher Form geschrieben: Rebellin, Magierin, Heldin, Liebende, Närrin, Durchschnittsfrau/Jedermann, Betreuerin, Herrscherin, Schöpferin, Unschuldige, Weise, Entdeckerin; vgl. [online] https://this.place/blogs/archetypen/die-12-archetypen#:~:text=Auf%20einen%20Blick%3A%20Die%2012%20Archetypen&text=Basierend%20auf%20der%20griechischen%20Mythologie,viel%20wie%20Urbild%20oder%20Vorbild. [22.11.2024]
[2] Es sei nur kurz die verschwurbelte Sprache des Pilatus angemerkt. Es sind eben nicht Volk und Hohepriester, die Jesus ausgeliefert haben, sondern sie ihn ausliefern lassen; wirkursächlich war es der Kuss des Judas, einer der Zwölf, der Jesus ans Messer liefert, und mehr noch Jesus selbst, der jede Gegenwehr und „das Schwert“ mied. In einer religiös geführten Antisemitismus-Debatte wird das gern übersehen oder verfälscht dargestellt!