„Sie ist nicht mehr die alte …“
Seit drei Jahren immer die gleiche Frage: Ob Mama Weihnachten noch da ist? Seit drei Jahren gehen wir, besonders mein Vater, diesen Weg, gehen wir an der Grenze des Lebens. Nach einem Schlaganfall stellte meine Schwester, examinierte Krankenschwester, eine Wesensveränderung an unserer Mutter fest: „Sie ist nicht mehr die alte …“ – und es setzte eine schnell sich fortsetzende Alzheimer- Erkrankung ein, mit allem, was dazu gehört. Drei Jahre versuchte mein Vater, selbst gehbehindert, aber geistig immer wacher werdend, der Situation Herr zu bleiben: Türen wurden abgeschlossen, nachts musste er meine Mutter, die durch das Haus lief, wieder ins Bett zurückbringen. Als sie tagsüber von unserem Haus am Dorfrand weg- und er mit seinem Rollator hinterherlief, war klar: es geht nicht mehr. Gemeinsam fassten wir den Entschluss, sie in einem nahe gelegenen Pflegeheim unterzubringen. Täglich fuhr mein Vater dorthin – gleich zwei Nachbarinnen sind dort in der Pflege tätig und konnten ihn zum Früh- oder Spätdienst mitnehmen, was für ein Glück für ihn.
„Ich will einfach bei meiner Frau sein!“
Nach einem halben Jahr sprach unser Vater mit uns: er würde ja auch irgendwann in ein Heim gehen müssen und er überlege, ob er es nicht jetzt machen solle; er wäre meiner Mutter näher, und noch sei er so fit, dass er sich dort gut einleben könne. Im Dezember 2011 beendete er die Gespräche, bat sich bis Weihnachten Schweigen aus und verkündete uns Weihnachten, dass er ab Februar einen Platz im selben Haus habe wie meine Mutter. Im Februar packte er seinen Koffer und ging in das vier Kilometer entfernte Haus, als ob er in Urlaub fahren würde. Wenn es wärmer würde, könnten wir ihm ja die kurzärmligen Hemden bringen, war sein Kommentar. Er wolle bei seiner Frau sein – fertig!
Ein letztes Mal gemeinsam tanzen …
Und dann setzte bei meiner Mutter der rapide Verfall – anders kann ich es nicht nennen – ein. Das Gespräch, das Gehen, das Essen, – alles „schlief“ einfach so ein. Ein Besuch im Garten, später auf dem Balkon war nur noch im Rollstuhl möglich, an Karneval waren beide noch einmal König und Königin – das Foto ziert das Zimmer meines Vaters, sicher das letzte gemeinsame Foto, an dem beide „einfach so“ an einem Tisch sitzen und sogar gemeinsam tanzen.
In Kontakt bleiben – für meine Frau leben
Jetzt liegt meine Mutter fünf Zimmer weiter als mein Vater auf dem gleichen Flur, das hat die Heimleitung möglich gemacht. Und mein Vater sitzt täglich viele Stunden an ihrem Bett, hält ihre Hand, liest Zeitung und nimmt jede Regung bei ihr wahr. Und in jedem Telefonat, in dem ich ihn frage, wie es ihm gehe und wie sein Tag gewesen sei, sagt er zuerst: „Bei der Mama …“ – und schildert, wie lange sie wach war, ob sie reagiert habe, und dass sie manchmal sogar noch „Ja“ oder „Nein“ sage. Was für ein großer Moment, als ich beim letzten Besuch meiner Mutter einen Kuss auf die Wange gab, mich verabschiedete und sagte, dass ich nun zum Zug müsse – und sie lächelte und sagte „nur“: „Tschüss!“
Klugheit – gelehrt zu bekommen, dass wir sterblich sind
Weder mein Vater noch meine Schwester oder ich noch meine Mutter stehen alleine da mit dieser „Grenze“, die der Weg dem Sterben entgegen darstellt. Und doch hat dieser Weg eine immer einmalige Färbung. Er muss von jedem einzelnen Menschen gegangen werden, hoffentlich von denen begleitet, die zu ihm, zu ihr gehören. Zwei Worte fallen mir ein: eines von Thomas, einem sechzigjährigen Vater eines Freundes: „Was würde die Mutter eines Neugeborenen sagen, wenn man sie mit der Wahrheit konfrontiert, dass sie mit der Geburt des Kindes auch dessen Todesurteil unterschreibt?“, fragte er mich in einer für ihn schweren Stunde. Und aus dem Psalter in der Übersetzung von Martin Luther: „Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden.“ (Ps 90,12)
„Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch“
Der Blick auf das eigene Leben – vor allem die Deutung, die ich dem Erlebten gebe – können in diese Klugheit führen. Die Alternative wäre Verzweiflung. Dieser Blick ist immer wieder Inhalt der Geistlichen Begleitung, der Exerzitien: Erfahrungen in der eigenen Kindheit, Erfahrungen vom Tod etwa der Großeltern, später auch derer, die mein späteres Leben bereicherten. Oder die Brüche und die Erfahrungen des Scheiterns im eigenen Leben, die eigene Hoffnungen und Pläne zunichte machten. Um darin nicht selbst zu- grunde zu gehen, mag neben dem Psalmwort oben auch die Ermutigung Jesu in Joh 15 gehören: „Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch. Wie die Rebe aus sich keine Frucht bringen kann, sondern nur, wenn sie am Weinstock bleibt, so könnt auch ihr keine Frucht bringen, wenn ihr nicht in mir bleibt“ (Joh 15,4). Was verlangt dieses eigentlich passive Wörtchen „bleiben“ doch für ein aktives Tun und Arbeiten von mir! Schauen Sie sich ihr eigenes Leben an: was können Sie alles mit diesem „Bleibt in mir!“ verbinden – und wie hätte die Alternative wohl ausgesehen?
„… aber was willst du machen?“
Neben dem „aktiven“ Tun und dem „passiven“ Erleiden gibt es noch ein drittes Wort, das mein Vater oft im Munde führt: „… aber was willst du machen?“ Und ich erlebe das bei ihm so gar nicht als die bittere, verbitterte Notwendigkeit, sein Schicksal lieben (oder zumindest annehmen) zu müssen. Ich erlebe es bei ihm als – übri- gens ganz unbewusste – Umsetzung zweier sehr ignatianischer Grundworte: „Fruchtbar sein“ und „Bereitschaft zum Gestalten“.
Neben dem Prozess des Zugehens auf das eigene Sterben hin und neben dem Erleben der vielen kleinen (und großen) Sterbeprozesse in der eigenen Biographie gilt dasselbe auch für den Weg einer GCL-Gruppe. Ich habe im Exerzitienseminar – und natürlich in den beiden Gruppen, denen ich bisher angehörte, und auch den beiden Regionen, denen ich zugehörig war und bin – viel gelernt über die Klugheit des Lebens und den Schmerz des Sterbens. Sie auch? Sich hier den Fragen nach der „Fruchtbarkeit für das Leben“ stellen ist ein Überlebensmoment jeder Gruppe, und sich eingestehen kön- nen, dass das Sterben einer Gruppe (oder meiner Mitgliedschaft in einer Gruppe) schlicht nicht nur „Scheitern“ sein muss, sondern auch ein „Bleiben am Weinstock“ bedeuten kann, ist ein ziemlich schmerzlicher Prozess, der aber dem Leben dienen kann und will. Ihn so zu gehen, dass am Ende das „am Leben bleiben“ das letzte Wort behält, ist eine Kunst, und im besten Fall sind unsere Geistli- chen Begleiter/innen Menschen, die diese Kunst beherrschen und uns in sie einführen können.
Am Leben bleiben
„Dem Sterben entgegen“ heißt der Artikel, und ich möchte den Satz fortsetzen mit „Dem Sterben entgegen steht das Leben!“ Am Leben bleiben heißt, nicht am Sterben zu verzweifeln. Heißt, der unglaublichen Kraft der Verzweiflung eine Hoffnung entgegenzusetzen, die nicht in unserem Vermögen allein liegt. Heißt, am Weinstock bleiben, nicht, weil ich mich an ihm festkralle, sondern weil ich mich von ihm, dem Weinstock, gehalten weiß. Dem Sterben entgegen steht das Vertrauen. Mir scheint im Erleben des langen Weges meiner Eltern miteinander, dass es das Hineinwachsen in das Vertrauen auf die haltenden Hände Gottes das ist, was einen Menschen in seiner Reife bestätigt, ihn wirklich reifen lässt. Am Ende stehen dann nicht „faule Früchtchen“ oder „schimmelnde Trauben“, sondern Menschen, die, reif geworden, in der Einfachheit dessen, was (noch) bleibt, fruchtbar leben und eine unglaubliche Bereitschaft zum Gestalten in sich haben. Nicht aus eigener Kraft, sondern als Lebenskraft, die ihnen vom Herrn selbst geschenkt wird.
Dass ich sehr stolz und froh über meinen Vater und seinen Weg, dem Sterben entgegen, bin, sei hier abschließend noch angefügt!
Vorschlag für ein Gruppentreffen
Die Ankommrunde kann mit Wortkärtchen aus dem Psalm 90 angeleitet werden – welches der Worte passt für unser Erleben seit dem letzten Treffen?
Die eigene Situation, der eigene Weg „dem Sterben entgegen“ kann in den Blick kommen. Im Austausch können Erfahrungen des Sterbens aus dem eigenen Leben vorgestellt werden: Brüche, Scheitern, die der Gruppe (vielleicht schon) bekannt sind, aber auch die Erfahrungen des „am Weinstock Bleibens“. Was oder wer hat wie geholfen, das Leben auf „Leben“ und nicht auf „Sterben“ hin zu deuten? Wie mag der Weg zurück in das Vertrauen auf den Herrn hin ausgesehen haben? Was heißt für den Einzelnen, die Einzelne heute, „fruchtbar“ zu leben oder das Leben, die gegenwärtige Lebenssituation zu „gestalten“? Hilfreich kann es sein, dies nicht nur in einem einzigen Treffen ins Gespräch zu bringen, sondern in einer kleinen Reihe von Treffen unter dem Stichwort „… auf dass wir klug werden“ auf mehrere Treffen zu verteilen.
Am Ende eines jeden Treffens kann das gemeinsame Gebet stehen, verbunden mit Versen aus dem Ps 90 und einem Dank oder einer Bitte.
Harald Klein, Köln
Martin Klein, Hadamar