Vergangenheit wird gegenwärtig
„Weißt Du noch, damals, der Joachim am Wolfgangsee…“ – manchmal genügt unter Freundinnen und Freunden oder in Familien das bloße Nennen von Namen (und vielleicht eine Konkretisierung durch Orte), um Erinnerungen aus der Vergangenheit wieder ganz gegenwärtig werden zu lassen. Probieren Sie das ruhig mal in ihren Kreisen oder in Ihrem Beten aus – mal sehen, was die Erinnerung da ans Licht bringen kann, was sich da an Gefühlen und Affekten regt, welche Geister sich da zeigen…
Der Stammbaum Jesu
Die Bibel geht mit der Nennung der 3×14 Generationen im Stammbaum Jesu (Mt 1,1-17) einen Schritt weiter. Natürlich könnte man diese Namen im oben beschriebenen Sinne verstehen, z.B. „Weißt Du noch, damals der Abraham – oder damals die Rut…“, aber damit greift man zu kurz. Diesem stilistisch kunstvoll aufgebauten „Stammbaum“ geht es nicht um das Aufzeigen von Herkunfts- oder Verwandtschaftsverhältnisse. Sie versuchen vielmehr zu erklären, wie es zu den verschiedensten Beziehungen und Verhältnissen zwischen Völkern und Gruppen zur Zeit Jesu gekommen ist und welche Rolle Jesus von Nazareth bzw. Jesus der Christus darin spielt.
Drei wichtige Aussagen möchte ich Ihnen aus dieser für den liturgischen Gebrauch eher unpassenden weil unverständlichen Schriftstelle geben. Ein Erstes: am Anfang steht Abraham (Mt1,2), der Stammvater des Volkes Israel, und wenn der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs den Segen auf Abraham legte, damit dieser zum Segen werde, so legt er nun in Abrahams Nachfolge diesem Jesus seinen Segen auf, damit dieser zum Segen werde – über das Volk Israel hinaus für alle Welt: der Taufbefehl am Ende des Mt schließt die Klammer um das Matthäusevangelium, die mit der Nennung des Abraham geöffnet wird. Ein Zweites: Jesus wird in Beziehung zu David gesetzt (Mt 1,6), er ist ein „Sohn Davids“ und kann so als legitimer König über Israel, als Gesalbter und als Messias ausgewiesen werden – freilich über das Volk Israel hinaus: als Gesalbter und Messias für alle Welt. Und ein Drittes: die vier Frauen im Stammbaum Jesu – Tamar (Mt 1,3), Rahab (Mt 1,5), Rut (ebd.) und Batseba, die Frau des Urija (Mt 1,6). Gemeinsam ist diesen Frauen, dass sie allesamt Nichtjüdinnen waren, aber durch ihr Mittun im Heilsplan Gottes für das Wohl und das Heil des jüdischen Volkes einen entscheidenden Beitrag lieferten. Matthäus öffnet so den Blick über das Judentum hinaus, um des Wohles und des Heiles des Gottesvolkes willen.
Der gesamte Aufbau des Stammbaumes Jesu zeigt bei Matthäus, dass die Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk und darüber hinaus über die Väterzeit, die Königszeit und die Zeit des Exils ihren Höhepunkt in der Geburt des Messias Jesus Christus hat.
(Nur der Vollständigkeit halber sei auch der Stammbaum Jesu in Lk 3,23-38 erwähnt, der dem des Mt bis hin zu David gleicht, dann aber eine andere „Genealogie“ ausweist – auch, um damit eben andere „Wesensverhältnisse“ aufzuzeigen. Es geht eben nicht – wie in unseren „Stammbäumen“ – um eine „biologische Abstammung“, sondern um Verhältnisbestimmungen.)
Der Stammbaum Jesu und die Betrachtung des Schauplatzes
„Weißt du noch, damals der Joachim am Wolfgangsee…“ – wenn Ignatius in seiner Weise, zum Beten zu führen, auf die „Bereitung des Schauplatzes“ hinweist, so kann das auch mit dem Stammbaum Jesu und mit dem eigenen „Stammbaum“ (im biblischen Sinne) gelingen. „Wie im Anfang…- Vergangenheit“ ist der Titel dieses Werkheftes. Es lohnt, sich betend „Anfänge“ im eigenen Leben anzuschauen und bei ihnen betend zu verweilen.
Nicht, dass es gleich 3×14 Anfänge sein müssen. Es mag genügen, sich den einen oder anderen in der Vergangenheit liegenden Anfang auszuwählen, der sich zeigen will. Beispiele könnten sein: der Hinweg zur Ehe samt der Eheschließung, der Hinweg zum Ordenseintritt oder zur Berufswahl, der Neustart nach einem Umzug, der Beginn der Zeit in der Gruppe und in unserer Gemeinschaft, aber auch die Eröffnung einer schweren Krankheit, einer Trennung, auch des Todes eines geliebten Menschen, um einige „Stammbäume“ im Sinne von „An- oder Hinwegen“ zu nennen.
Für die Betrachtungszeit sind einige Richtungen aus dem Stammbaum Jesu hilfreich. Da ist zunächst die Vergangenheit das Tor, das den Weg in die Gegenwart eröffnet. Gleich, ob ich ihn gewählt habe oder ob ich in dieses Tor gestellt wurde: Gott geht mit! Aus dem „Ich“ wird ein „Wir“. Wie hat sich der Gott meines Lebens „damals“ gezeigt, und – die zweite Frage – wohin hat er mich geführt, wo stehe ich (besser: wo stehen wir) jetzt? Auf diese zweite Frage folgt aus dem Stammbaum Jesu heraus die dritte Frage: wohin soll ich (besser: sollen wir) jetzt gehen, was ist mein, ist unser nächster Schritt? Letztlich sind die Stationen und die Anstöße aus der Vergangenheit immer Impulse auf eine Heilsgeschichte Gottes mit mir hin – auch, wenn das manchmal wie eine Zumutung erscheint.
Namen und Orte bergen Verheißungen und Segen
Wenn sich mir Namen, Begegnungen, Orte, Ereignisse in dieser Betrachtung zeigen, sind dann auch Verheißungen damit verbunden, und zwar solche, die auf „Heil“ und „Segen“ hinweisen? Und zwar „Heil“ und „Segen“ für mich und für die um mich herum – hier darf ich ganz weit denken. Denn genau darauf hin zielt der Stammbaum Jesu, den Matthäus an den Beginn seines Evangeliums: er weist die Stationen der Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen aus, in die hinein ich gestellt bin und in der ich selbst eine Rolle spiele. Vielleicht zeigen sich so manche „Hinwege“, manche „Stationen“ und manche „Impulse“ in einem neuen Licht. Aus dem Tor der Vergangenheit führt und begleitet mich Gott in die Gegenwart – um von hier aus in eine immer neue gemeinsame Zukunft gehen zu können.
Harald Klein, Köln
Anm.: Eine gute Erklärung des Stammbaums Jesu im Mt liefert Anneliese Hecht in einem Beitrag es Kath. Bibelwerkes