Die Lüge des Maßbandes – oder: Wie geht geistliches Wachsen?

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Die „Größe“ des Maßbandes

Wie war das damals bei Ihren Kinder – hatten Sie auch ein Maßband an den Türpfosten gemalt, und immer am Monatsersten oder an einem anderen Datum hat sich ihr Sohn oder ihre Tochter an dieses Band gestellt, oft bestaunt mit den Worten: „Schau, wie du gewachsen bist.“

Oder als Ihre Söhne – oder Sie selbst – bei der Bundeswehr waren: Kennen Sie noch das Maßband mit den 150 cm, an dem man, jetzt umgekehrt, jeden Tag einen Zentimeter abgeschnitten hat, um das Ende herbeizusehnen?

Von dem Maßband, das man sich um die Taille legt, um Hosengröße oder den Body-Mass-Index zu berechnen, möchte ich lieber schweigen. Allemal gilt: Das Maßband setzt Maßstäbe – wie groß ich geworden bin, wie lange ich noch bleiben muss, und ob es vielleicht zu viel war und weniger werden muss.

Die „Größe“ des Glaubens

Jetzt nehmen Sie mal in ihrer Phantasie ein Maßband in die Hand und messen Sie, wie groß Ihr Glaube ist. Das ist ein Problem, oder? Was messen Sie denn da? Da könnte es einmal die Betenden geben: Sie nehmen die Unterteilungen von 1-31 und markieren, wie oft Sie in diesem Monat im Gottesdienst waren – oder wie oft sie ein Morgen- und Abendgebet verrichtet haben. Da könnte es die Diakonischen geben: Sie nehmen die Unterteilungen von 1-31 und markieren, wie oft Sie in diesem Monat Kranke besucht haben, freundlich waren zu den bettelnden Menschen, eine menschenfreundliche Organisation finanziell unterstützt haben. Da könnte es – ich meine es im besten Sinne des Wortes – die modernen Schriftgelehrten und die Kulturchristen geben:  Sie nehmen die Unterteilungen von 1-31 und markieren, wie oft Sie in diesem Monat die „Kirchenzeitung“, die „Tagespost“ oder den „Christ in der Gegenwart“ gut gelesen haben, welches theologische Fachbuch Ihnen viel gegeben hat oder welches wunderschöne Konzert Sie tief berührt hat – gerade heute fängt die Kölner Kirchenmusikwoche an. Woran und wie messen Sie, wie groß Ihr Glaube ist? Sie merken, egal, ob Sie eher zu den Betenden, den Diakonischen, den modernen Schriftgelehrten oder den Kulturchristen gehören: was die „Größe“ Ihres Glaubens angeht, führt das Maßband mit seiner Einteilung zur Lüge – Sie messen nicht, wie groß Ihr Glaube ist, Sie messen, wie oft Sie gebetet oder den Gottesdienst besucht haben, wie Ihr Auftreten den Bedürftigen gegenüber ist oder was Sie gelesen und gehört haben.

Das „Maß des Glaubens“

Das Maß des Glaubens hat keine Skalierung wie ein Maßband! Glaube bemisst sich anders, und die Lesung aus dem Propheten, vor allem aber das Evangelium geben diesen Maßstab vor.

Ezechiel nimmt das Wort vom „einpflanzen“: Gott selbst nimmt ein Stück vom hohen Wipfel der Zeder und pflanzt es ein. Dort treibt er Zweige, er trägt Früchte und wird zur prächtigen Zeder. Allerlei Vögel wohnen darin. Das erste Maß des Glaubens fängt mit „Kultivieren“ an, hat mit „Lebenskultur“ zu tun. Vom hohen Wipfel der Zeder – sie mag für das Wort Gottes stehen, für das Leben, die Botschaft Jesu – nehme ich etwas, säe es aus und pflanze es ein, mitten hinein in mein Leben, und zwar so, dass es wachsen kann, Früchte trägt und Heimat schenkt.

Und Jesus konkretisiert das noch einmal in seinen Saatgleichnissen. Das Entscheidende ist nicht, dass ich alle Gartenratgeber lese, dass ich mich wie ein Verrückter um das Wachsen und Frucht tragen mühe – ich gebe meinen Teil dazu, aber das Entscheidende, die Lebenskraft – „Grünkraft“ nennt Hildegard von Bingen diese Energie – tut die Erde von selbst, ist Wirken des lebensspendenden Geistes Gottes. Das zweite Maß des Glaubens ist die vertrauende Gelassenheit, sich schlafen zu legen und wieder aufzustehen, Nächte und Tage auszuharren und darauf zu vertrauen, dass der Same keimt und wächst – und der Mann weiß nicht wie. Die Erde bringt von selbst ihre Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre – wohlgemerkt: und der Mann weiß nicht wie!

Die zwei Messgrößen des Glaubens

Jetzt messen Sie mal, wie groß Ihr Glaube ist. Das erste Maß: Wie oft, wann, wo nehmen Sie etwas vom „hohen Wipfel der Zeder“, von Gottes Wort, von Ihrer Ahnung, Ihrem Wissen über das Leben und über die Botschaft Jesu- und setzen es ein in Ihren ganz gewöhnlichen Alltag? Und pflegen es so, dass es Frucht bringen und Heimat werden kann – für Sie selbst und für die um Sie herum? Und das zweite Maß: Wie gelassen, wie vertrauensvoll, beinahe könnte man sagen: wie spielerisch können Sie das tun, darauf vertrauend, dass Gottes Geist führen und fügen wird. Wie gut können Sie mit all dem Schlafen, Tage und Nächte warten – oft nicht einmal wissend, welche Frucht da wachsen wird und wem Ihr Tun zur Heimat wird? Wie groß ist Ihr Glaube? Marcus Tullius Cicero (106-43 v.Chr.) hat es auf den Punkt gebracht: „Fange nie an aufzuhören, höre nie auf, anzufangen“ – und sowohl Ezechiel als auch Jesus führen den Gedanken weiter: „Nimm etwas von dem hohen Wipfel der Zeder, die Gottes Wort, Jesu Botschaft und sein Leben ist, und setze es ein mitten in deinen Alltag.“ Und dann – tun Sie das Ihrige, um dem Setzling gerecht zu werden, vertrauen Sie auf Gottes Führung und Fügung, und schlafen Sie gut.

Amen.