Die Matthäuspassion – eine Begegnung mit Gott: Eine Konzerteinführung

  • Aus der Reihe getanzt - Gedankensplitter
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Ein Brief zum Vortragen vor dem Konzert

Lieber Alexander,

Du hast mich gebeten, beim heutigen Konzert einige einführende Worte zu Bachs Matthäuspassion zu sprechen, geistliche Worte sollten es sein. Leider kann ich nicht persönlich kommen, Deinem Anliegen nehme ich mich aber gerne, wenn auch nur per Brief, an.

Wie so oft in guter Tradition des hl. Ignatius von Loyola möchte ich das in drei Punkten tun: Die Matthäus-Passion (1) als „Laut-Malerei“; (2) als persönliches Zeugnis eines Glaubenden, (3) als Möglichkeit der Begegnung mit Gott.

Die Matthäuspassion als Laut-Malerei

Zuerst also die Matthäuspassion als „Laut-Malerei“. Die großartige Kirchenmusik aus der Zeit der Reformation wurzelt ja darin, dass Bilder aus Kirchen genommen wurden – sicher im auch berechtigten Anliegen, dass damals die Bilderverehrung soweit ging, dass sie an die Stelle der Verehrung Gottes traten. Natürlich ist Gott Geist, aber uns Menschen ist es zu eigen, diesen Geist manifestiert sehen zu wollen. Gottes Geist drückt sich im Handeln der Menschen aus, in seinen Artefakten, seien es die großen Kathedralen, seien es Gemälde, oder seien es – für mich das Schönste – Menschen, aus denen dieser Geist wirkt. Ich möchte Gottes Geist anschaulich begegnen. Die Gefahr ist groß, dann bei dieser Anschauung – in dieser Musik: beim Anhören – stehen zu bleiben. Und es ist keine Notwendigkeit, nach dem zu fragen, der hier gemalt – in der Musik: der hier besungen – wird. Bachs Oratorien und seine Kantaten und Motetten sind für mich der Versuch, in einer Art „Laut-Malerei“ musikalische Bilder entstehen zu lassen, die Zeugnis geben für Gott, für Jesus Christus, für den Heiligen Geist. Die Sinne haben gewechselt – es geht um das Hören, nicht um das Sehen. Das Ziel ist dasselbe: ein persönliches Bild von dem zu zeichnen, der mich „unbedingt angeht“, so hat der evangelische Theologe Paul Tillich einmal „Gott“ definiert: „der, der mich unbedingt angeht“ – du hörst die Doppeldeutigkeit dieser Definition! Das erste, was ich den Zuhörenden und den Musizierenden wünsche, ist, dass sie die Musik hören, empfinden, und dass ihn ihnen allen ein Bild entsteht von dem, der sie unbedingt angeht. Ich würde es gerne ein „tieferes Hören“ nennen, ein Hören, aus dem ein inneres Bild erwachsen kann, das Bild, dass Bach selbst vor Augen hatte, als er diese Musik schrieb, oder das Bild, dass Gottes Geist selbst in den Musizierenden und in den Hörenden malen will.

Die Matthäus-Passion als Glaubenszeugnis

Das Zweite: Die Matthäus-Passion als persönliches Zeugnis eines glaubenden Menschen. Mich berührt in Bachs Lebenslauf immer wieder der Tod seiner Kinder. Aus seiner ersten ehe starben zwei von sieben Kindern, aus der zweiten Ehe starben sieben von 13 Kindern im Kindesalter. Und dann immer wieder Choräle, Motetten, Kantaten und Passionen, in denen das Vertrauen und die Hoffnung besungen werden. Mich berührt sehr, dass Bach im Autograph der Matthäuspassion von 1736 alle direkten Bibelworte und den Eingangschoral „O Lamm Gottes unschuldig“ mit roter Tinte geschrieben hat. Daher mein zweiter Wunsch an die Zuhörenden und die Musizierenden, der an den ersten direkt anschließt: Hören, singen, spielen Sie diese Musik auf der Folie Ihres Lebens, Ihrer Fragen, Ihrer ganz persönlichen Dunkelheiten – ich glaube, so kommen Sie Johann Sebastian Bachs Intention am nächsten. Er will als glaubender Mensch seine „Laut-Malerei“ an glaubende, an suchende Menschen weitergeben, die wie er mit vielen Fragen und Dunkelheiten konfrontiert war. Und er will Ihnen ein Zeichen des Vertrauens und der Hoffnung anbieten, in roter Tinte geschrieben.

Die Matthäus-Passion als Ort der Begegnung mit Gott

Das Dritte: Die Matthäus-Passion als eine Möglichkeit der Begegnung mit Gott. Zugegeben: eine steile These. Wie für jede persönliche Begegnung gilt auch hier: damit eine Begegnung stattfinden kann, sagt Martin Buber, braucht es ein „Ich“, ein „Du“ und ein „Dazwischen“. Für das „Dazwischen“ sind die Musizierenden zuständig, und es mag vielen genügen, dieses „Dazwischen“ der Rezitative, Arien, Duette, Terzette und Choräle zu genießen. Damit es „Begegnung“ werden kann, braucht es ein klares „Ich“ und ein klares „Du“ – und vor allem den Wunsch, dass so eine Begegnung stattfinden darf. Noch eine steile These: Wenn die, die musizieren, sich und ihr Können ganz dieser Begegnung hingeben, dann sind Sie Botinnen und Boten Gottes, dann geben sie nicht nur etwas von Gott, sondern ihn selbst weiter. Und wenn die Hörenden sich dieser Begegnung öffnen, dann Gott selbst bei ihnen „ankommen“. Das geschieht über die „Laut-Malerei“ in der Musik, das geschieht im Wissen um die Intention und die Geschichte, um die rote Tinte Bachs, und das geschieht, wenn die Melodien der Musik oder Teile des gesungenen Textes einen tiefen Widerhall in den Musizierenden und den Hörenden findet. Ich glaube sogar, dass diese beiden inneren Haltungen in beide Richtungen wirken können: die Haltung, in der musiziert wird, wirkt auf die Hörenden; und die Weise, wie gehört wird, wirkt auf die Musizierenden. Das „Dazwischen“ ist nur ein Medium zur Begegnung. Man kann Gott nicht direkt begegnen, sondern immer nur vermittelt. Das wäre mein letzter Wunsch für die Musizierenden und die Hörenden: dass Ihr und Sie alle diese Wechselwirkung erfahren, und dass Euch und Ihnen allen Gott selbst begegnen kann.

Drei Wünsche

Diese drei Wünsche, die „Laut-Malerei“, die Begegnung mit einem glaubenden Menschen und die Möglichkeit der Begegnung mit Gott selbst, seien über das Konzert geschrieben. Ich bin traurig, dass ich nicht dabei sein kann, und ich freue mich mit Dir, mit Regina, mit allen Musizierenden und Hörenden, dass diese drei Wünsche die Möglichkeit haben, in Erfüllung zu gehen.

Herzlich grüßt

Harald