Die Spannung aushalten

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Die Spannung aushalten

Wenn ich Sie drei Wochen vor Weihnachten fragte, ob Sie die „Spannung“ noch aushalten, was kommt Ihnen da als Antwort in den Sinn? Die Ministranten vielleicht: meint der jetzt die Spannung, was es an Geschenken gibt? Die Großeltern vielleicht: mal sehen, was aus den Enkeln im letzten Jahr geworden ist. Die Einsamen vielleicht: mal sehen, wie ich die Feiertage herumbekomme. Und manche Eltern, Familien oder in frischen Partnerschaften Lebenden: hoffentlich bekomme ich das so hin, wie der/die andere sich das wünscht.

Die Spannung Johannes’ des Täufers

Ich meine aber eine andere Spannung, am ehesten vergleichbar mit der, die zur Elektrizität gehört, eine Spannung zwischen einem Plus- und einem Minuspol. Es ist die Spannung, die von Johannes dem Täufer im Evangelium aufgezeigt wird.

Da gibt es den „Pluspol“ für den Advent: „Bereitet dem Herrn den Weg! Ebnet ihm die Straßen!“ Ermunternde, einladende Worte, die wie im Adventskalender ein Türchen zur Welt hin öffnen: Ach ja, das könnte ich machen, bei dem einen so, bei dem anderen anders; ich könnte dies…, ich könnte jenes. Ich könnte die Kerzen am Adventskranz anzünden, Adventslieder hören, mich innerlich und äußerlich dem Advent hingeben und mich innerlich und äußerlich auf Weihnachten vorbereiten.

Und da gibt es den „Minuspol“ für den Advent: „Ihr Schlangenbrut, wer hat beuch gelehrt, dass ihr dem kommenden Gericht entrinnen könnt? Bringt Frucht, die eure Umkehr zeigt.“

Hier ist es aus mit dem Konjunktiv, mit dem „ich könnte…“ – hier geht es um Fakten: „Bringt Frucht!“ Und zwar Frucht, die eure Umkehr zeigt!“

Wo stehen Sie da, auf der Bahn zwischen Pluspol und Minuspol der Advents-Spannung? Mehr bei dem „ich könnte…“? Mehr bei dem: „Ich habe aber schon/doch…“ – oder irgendwo dazwischen?

Die Advents-Spannung wahrnehmen

Versuchen Sie doch mal eine ganz persönliche Standortbestimmung. Und lassen Sie mich Ihnen einige Tipps geben, wie so etwas funktionieren kann.

Was passiert, wenn Sie die die Adventslieder singen? Der Pluspol:

Wir singen „Es kommt ein Schiff geladen, bis an sein höchsten Bord,“ – und darin: das Segel ist die Liebe, der Heilig’ Geist der Mast.“ – oder „Der Anker haft’ auf Erden, da ist das Schiff an Land…“

Oder wir singen: „Wir sagen euch an den lieben Advent, sehet, die zweite Kerze brennt. So nehmet euch eins um das andere an, wie auch der Herr an uns getan.“

Der erste Schritt für eine „johanneische, adventliche Standortbestimmung: Die Spannung wahrnehmen:

Vom Pluspol her gedacht: Die heimatlichen, beinahe kindlichen Gefühle, die diese Lieder transportieren. Es tut gut, sie zu singen. Sie begleiten uns durch das Leben hindurch, sind Wegzeichen und markieren eine besondere Zeit im Jahr. „Bereitet dem Herrn den Weg, ebnet ihm die Bahn“ – es geht auf Weihnachten zu. Es gehört zu unserer christlichen Kultur, diese Lieder zu singen, auch, weil sie uns guttun.

Vom Minuspol her gedacht: „Ihr Schlangenbrut, wer hat beuch gelehrt, dass ihr dem kommenden Gericht entrinnen könnt? Bringt Frucht, die eure Umkehr zeigt.“ – Harte Worte! Wie steht es um die Frucht, die aus diesem Adventsliedersingen erwächst? Ist das Segel, das mir Schwung und Fahrt ins Leben bringt, die Liebe? Ist mein Leben rückgebunden, getragen vom Heiligen Geist? Und habe ich darin Erdhaftung? Stehe ich als Glaubender mit beiden Beinen auf dem Boden, gerne ausgetreckt zum Himmel? Oder: erinnert mich die zweite Kerze daran, mich des anderen anzunehmen, wie auch der Herr an uns  – und wer ist das konkret, der oder die andere?

Die Advents-Spannung aushalten

Es ist Johannes der Täufer, der uns mahnt: „Bleibt nicht beim Singen stehen! Sondern lasst euch vom Singen, von den Liedern fürs Leben anstecken.“ Letztlich geht es um zwei Fragen. Die erste: „Glaube ich, was ich da singe?“ Und die zweite: „Lebe ich, was ich da glaube?“

Letztlich wird es kaum gelingen, beide Fragen mit einem kräftigen und glaubwürdigen „Ja“ zu beantworten. Das ist auch nicht schlimm. Aber der Adventsspannung uns aussetzen, das können wir. Und dazu lasse ich mich von Johannes dem Täufer gerne einladen. Da kann eine Energie fließen zwischen dem „Bereitet dem Herrn den Weg, ebnet ihm die Bahn“ und dem „Bringt Frucht, die eure Umkehr zeigt.“ Und diese Energie, aus der heraus ich handle, ist nichts anderes als eine gelebte, christliche Spiritualität, ist reflektierte Religiosität, ist lebendiger und lebensspendender Glaube.

Das wäre was für einen wirklichen und gelebten Advent, mich in diese Spannung hineinzubegeben und leidenschaftlich und lustvoll diese Spannung auszuhalten und aus ihr Energie zu gewinnen: mit dem Segel der Liebe mich antreiben zu lassen, gebunden zu sein an den Heiligen Geist, mit Erdhaftung, mit der Sorge um die um uns herum, wie auch der Herr an uns getan. Um es mit Johannes zu sagen: „Bereitet dem Herrn den Weg, und bringt Frucht, die eure Umkehr zeigt.“

Amen.

Harald Klein, Köln