Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners

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Das Lügner-Paradoxon und der Konstruktivismus

„Epidemes, der Kreter, sagt: Alle Kreter lügen.“ – Sie kennen das Dilemma, das hinter diesem paradoxen Satz steckt? Denn entweder stimmt die Aussage, dass alle Kreter lügen, dann sagt aber der Kreter Epidemes die Wahrheit. Oder Epidemes, der Kreter und damit Lügner ist, sagt etwas aus, dass dann eben eine Lüge ist, und die Aussage stimmt gerade deswegen nicht.

Heinz von Foerster (1911-2002), ursprünglich ein österreichischer Physiker, später Philosoph in Illinois, stellt ein ähnliches Paradox auf: „Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.“ Und mit diesem Satz legt er den Grundstein für eine philosophische Denkrichtung, die man Konstruktivismus nennt.

Es ist leicht zu erklären, was Konstruktivismus meint: Lernende schaffen im Lernprozess ihre eigene und ganz individuelle Repräsentation der Welt – oder ganz einfach: ich lerne von meiner Mutter, wie man Rindsrouladen kocht, und es wird „meine Wahrheit“; ich sehe bei meinen Eltern, wie Ehe und Familie geht, und komme ins Schleudern, wenn meine Wahrheit über Ehe und Familie auf den Kopf gestellt wird, weil andere ganz anders Rindsrouladen füllen oder Ehe und Familie leben. Ich habe mein Bild von Kirche und Religion vor Augen und spreche anderen die Wahrheit ab, weil sie das anders sehen.

Um den Satz von Heinz von Foerster besser zu verstehen, muss man ihn vielleicht ein wenig anders betonen: „Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.“ Es gibt sie nicht, die Wahrheit, aber es gibt die Wirklichkeiten, in denen jeder von uns das, was ihn oder sie umgibt, wahrnimmt (und so fälschlicherweise für wahr hält; es ist nicht „wahr“, sondern „wirklich“, ein großer Unterschied in der Philosophie).

Drei Beispiele

Was halten wir nicht alles für wahr – und verwechseln dabei Wahrheit mit Wirklichkeit? Lassen Sie mich Ihnen drei Beispiele nennen.

Sie schauen draußen aufs Thermometer und sagen: „Heute ist es drei Grad minus.“ – Falsch. Es ist nicht drei Grad minus, das Thermometer zeigt drei Grad minus. Irgendwann haben Menschen festgelegt, dass die Temperatur, bei der Wasser sich zu Eis verfestigt, Null Grad Celsius genannt wird, eine „Wirklichkeit“ wird geboren, die man mit „Wahrheit“ verwechselt.

Oder der Tag heute: Jahresabschluss, Silvester. Irgendwann wird der Kalender festgelegt, auch mal mit einem Schaltjahr korrigiert, und der 31.12. wird zum Wendetag, an dem das alte Jahr vergangen ist und das neue geboren wird. Das ist gesetzte Wirklichkeit – in Wahrheit unterscheidet die Nacht vom 31.12. auf den 1.1. nichts von der Nacht sage wir mal vom 2. auf den 3. April.

Oder nehmen Sie die Weise, wie wir Kirche leben. In den großen Umbrüchen dieser Jahre geben wir auf, was wir seit 15, 20 oder30 Jahren gewohnt sind. In der Weise, wie Kinder und Jugendliche nach Religion, nach Glauben oder Gott fragen, ändern sich Wortwahl und Inhalt, wenn sie denn noch fragen. Die Wirklichkeit von Kirche, wie wir sie kennen, ändert sich, die Wahrheit dahinter, auf die die Kirche verweist, bleibt.

Wirklichkeit schafft Orientierung

Geschaffene Wirklichkeiten schaffen Sicherheit und Orientierungen. Wir können uns verlässlich verständigen, können vergleichen, einordnen, verbindlich miteinander leben. Die Gefahr ist, dass wir die geschaffenen, die konstruierten Wirklichkeiten mit der Wahrheit verwechseln. Wenn andere und anderes in unsere geschaffenen Wirklichkeiten kommen, wirbelt uns das mächtig durcheinander – und es gibt letztlich nur zwei Möglichkeiten: die eigene Wirklichkeit zur Wahrheit erheben und die anderen als „Lügner“, als „Verräter“, allemal als „Feind“ anzusehen und ihm so zu begegnen. Oder mich der Mühe der „Neukonstruktion“ unterwerfen. Sehen, dass es auch anders geht. Um die Beispiele von oben aufzugreifen: erkennen, dass man Rindsrouladen auch anders kochen kann als meine Mutter. Anzuerkennen, dass man Ehe und Familie auch anders leben kann, als ich es von zu Hause gewohnt bin. Mich für eine Bereitschaft öffnen, Kirche in neuer Weise zu leben, auch wenn dabei Gewohntes auf der Strecke bleibt.

Sich der Wahrheit annähern

Man wirft diese Denkrichtung des Konstruktivismus gerne vor, dass sie ja jeden Maßstab aufhebe, dass in ihm alles gleich gültig wäre und dadurch alles gleichgültig sei. Jeder sei nicht nur seines Glückes Schmied, sondern auch seiner Wahrheit Meister. Was hat dann noch Bestand? Kann man sich in der Konstruktion der Wirklichkeit auch der Wahrheit annähern?

Es ist der Dienst der Religion, Kriterien anzubieten, die bei der Konstruktion von Wirklichkeit helfen. „Die Wahrheit macht uns frei“ ist ein solches Kriterium. „Es bleiben Glauben, Hoffnung und Liebe, die Liebe aber ist die Größte unter ihnen“ passt auch. Die Psychologie und ihr Bild vom Menschen können helfen, gute, hilfreiche und lebenswerte Konstruktionen von Wirklichkeiten an modellieren. Der reife Mensch, so sagt Siegmund Freud, sei liebes- und leidensfähig, können Entscheidungen treffen und entschieden leben, und er sei in der Lage zu genießen.

„Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“. Es mag stimmen, aber sich dem annähern, was man „Wahrheit“ nennt, das geht. Bausteine für eine gut konstruierte Wirklichkeit sind die Überprüfung, ob mich und die um mich herum das Gewählte mehr frei macht (anstatt mich einzuengen), ob es mich mit einem Mehr an Hoffnung erfüllt (statt mich in Angst und Sorge zu binden), ob es mich mehr zu einem liebesfähigen Menschen macht (statt mich im Egoismus und im Drehen um mich selbst zu binden), ob es mich stärkt, eigenes Leid auszuhalten und fremdem Leid zu begegnen, und letztlich, ob es mich in die Lage versetzt, mein Leben zu genießen.

„Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“ – vielleicht kann man das abmildern so formulieren: „Die Wahrheit zu haben, die für alle gilt, ist eine Lüge!“ Rückblickend auf das Jahr wünsche ich Ihnen aber Erinnerungen an Erfahrungen und Begegnungen, in denen Ihnen eine Ahnung von dem aufgehen kann, was oder wer „die Wahrheit“ für Ihr Leben im vergangenen Jahr ist.

Amen.

Harald Klein, Köln