Dreifaltigkeitssonntag – Die „Wirk-Wirklichkeit“ Gottes

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Die Frage „Gibt es den/die/das wirklich?“

Kaum eine Lektüre der vergangenen Monate hat mich so in den Bann geschlagen wie die Rede der Trägerin des Literatur-Nobelpreises 2019, Olga Tokarczuk, betitelt mit „Der liebevolle Erzähler“. Es würde den Rahmen sprengen, darauf länger einzugehen[1], aber zwei Zitate aus dieser Rede habe ich Ihnen mitgebracht. Das erste steht im Zusammenhang mit einem Jugendfoto der Mutter der Autorin. Olga Tokarczuk sieht ihre Mutter an einem alten Radio – Sie wissen, das mit den zwei Drehknöpfen, den fünf Tasten und dem sich öffnenden und schließenden „Katzenauge“ – den Senderknopf drehen. Olga Tokarczuk meint, ihre Mutter würde im Äther nach ihr, der viel später geborenen Tochter suchen. Und dann endet sie diese Betrachtung mit dem Satz: „Wenn man jemanden vermisst, bedeutet das, dieser Jemand ist schon da.“[2]

Lassen Sie sich diesen Satz mal auf der Zunge zergehen! Da wird das Dasein eines Menschen mit der Sehnsucht, mit dem Vermissen seiner oder ihrer in eins gesetzt. An jemanden denken, heißt, ihn oder sie ganz gegenwärtig spüren oder ihn bzw. sie sich nahe wissen.

Und weiter unten in der Rede spricht sie als Zweites über die Erfahrung im Austausch mit ihren Lesern. Sie schreibt: „Seit die Lüge zu einer – wenngleich immer noch reichlich primitiven – Massenvernichtungswaffe geworden ist, hat sich das Vertrauen der Leser in die Fiktion verflüchtigt. Immer häufiger stellt man mir die Frage, die Ungläubigkeit schwingt darin mit: „Ist es denn wahr, was Sie da geschrieben haben?“ Und jedesmal habe ich das Gefühl, das Ende der Literatur sei nahe – klingt doch diese in der Wahrnehmung der Leser harmlose Frage für schriftstellerische Ohren wahrhaft apokalyptisch. Was soll ich darauf antworten? Wie lässt sich der ontologische Status eines Hans Castorp, einer Anna Karenina oder eines Pu der Bär erklären?“[3]

Die Frage nach dem ontologischen Status: Sie meint, ob es Hans Castorp, den Helden aus Thomas Manns „Zauberberg“, gäbe, ob es Anna Karenina, deren Geschichte Tolstoi meisterhaft beschrieben hat, gäbe, oder Pu, den Bären, ob es sie wirklich gäbe, und wenn ja, in welcher Weise es sie gibt.

Die Antwort der „Wirk-Wirklichkeit“

Es ist der Zauber guter Literatur, dass jeder sie Lesende weiß: es existiert kein Hans Castorp, es hat niemals diese Anna Karenina gegeben, und die postalische Anschrift von Pu, dem Bären, kennt auch niemand. Aber diese Figuren wirken. Die Leiden des jungen Werthers haben Hunderte von jungen Männern in der Zeit von Goethe in den Selbstmord getrieben, obwohl er „nur“ eine Romanfigur ist. Es hat niemals einen Winnetou und einen Old Shatterhand gegeben, aber das Bild der Freundschaft unter Männern, unter „Blutsbrüdern“ haben sie dennoch sehr geprägt. Es gibt so etwas wie eine „Wirk-Wirklichkeit“. „Ist es denn wahr, was sie geschrieben haben?“, fragen die Leserrinnen und Leser Olga Tokarczuk. Und sie könnte auf den ontologischen Status der Wirk-Wirklichkeit verweisen. Da diese Figuren auch wirken, muss es sie – irgendwie zumindest – geben. Oder anders: „Wenn man jemanden vermisst, bedeutet das, dieser Jemand ist schon da.“

„Wirklich ist, was wirkt.“

Der Chicagoer Soziologe William Thomas (1863-1947) hat in der Frage nach dem Verstehen und dem Funktionieren einer Gesellschaft den Satz geprägt: „Wirklich ist, was wirkt.“ Wir erleben es in der Angst vor Corona – die Frage nach Mundschutz, Abstandsregeln, Desinfizieren usw. wissend, dass in unserer Stadt max. 0,2 % mit dem Corona -Virus infiziert (nicht: erkrankt) sind. Corona ist wirklich, weil es wirkt – weit über die reale Ansteckungsgefahr hinaus, und auch für die, die weder infiziert noch erkrankt sind.

Ist die Freundschaft zu einem Menschen „wirklich“? Ja, wenn sie wirkt! Wenn man jemanden vermisst, heißt das, dieser Jemand ist schon da – weil der Gedanke an diesen Jemand wirkt!

Aus der und in der „Wirk-Wirklichkeit“ Gottes leben

Was antworten Sie, die Ordensfrauen, was antworte ich, der Priester, was antworten Sie, die Großeltern oder die Eltern, die Nachbarin oder der Freund, wenn Sie jemand fragt: „Gibt es Gott?“ Oder: „Ist Gott wirklich?“ Drei kleine Anläufe zu einer Antwort lassen Sie mich Ihnen am Dreifaltigkeitssonntag anbieten. (1) „Wenn man jemanden vermisst, heißt das, dieser Jemand ist schon da“ von Olga Tokarczuk. Gott vermissen heißt, er ist schon da, eben in seiner Wirk-Wirklichkeit. Das ist mindestens ein Anfang. (2) Wie Thomas Mann seinen Hanns Castorp, Leo Tolstoi seine Anna Karenina und Alan Alexander Mine seinen Pu den Bären zeichnet, beschreibt, von ihm bzw. von ihr Kunde gibt, so ist es Jesus Christus, der von Gott Kunde gibt; wer ihn sieht, sieht den Vater, sagen wir; und an seinem Leben, Sterben und Auferstehen können wir die Wirk-Wirklichkeit Gottes ablesen. Um diesen Gott geht es, um nichts und niemand anderes (3) Was hat das alles mit mir zu tun, mit Dir, mit Ihnen? Wenn ich, wenn Du, wenn Sie diesen Gott vermissen, dann ist dieser Gott schon da. Das nennen wir das Wirken des Heiligen Geistes – wirklich ist, was wirkt. In uns wirkt der Geist, der auch in Jesus wirkte, und es ist der Geist, der Gott selbst ist, der in drei Wirk-Wirklichkeiten sich zeigt.

Vor dem Vaterunser betet der Priester oft: „Wir haben den Geist empfangen, der uns zu Kindern Gottes macht. Darum beten wir voll Vertrauen…“ Und Schwups, ist der „Vor-Satz“ weg. Sich das mal betend aneignen, im Inneren bewegen: „Wir haben den Geist empfangen, der uns zu Kindern Gottes macht…“ – Wir haben ihn empfangen. Er hat uns zu Kindern Gottes gemacht und macht es immer wieder neu. Wir können aus der Wirk-Wirklichkeit Gottes und in der Wirk-Wirklichkeit Gottes leben. Nochmal das Zitat von Olga Tokarczuk: „Wenn man jemanden vermisst, heißt das, dieser Jemand ist schon da. “

Die Frage nach Gottes ontologischem Status: Ist Gott wirklich? Vielleicht hängt es zuallererst an unserer Sehnsucht, an unserm Vermissen. Ist Gott wirklich? Wirklich ist, was wirkt.

Amen.

Köln, 05.06.2020
Harald Klein

[1] Eine Sammlung sinnstiftender Zitate aus dieser Rede finden Sie unter „Verw:ortet“ für Juni 2020.

[2] Olga Tokarczuk (2019): Der liebevolle Erzähler. Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur, Zürich, 13.

[3] a.a.O., 30.f.